Von Reinhard Wilhelm
Vor 50 Jahren, Anfang 1970, gab es in meiner Heimatstadt Meschede die letzte Pockenepidemie in Deutschland. Ein junger Mann hatte die Pocken aus Pakistan eingeschleppt. Er lag in der Isolierstation des Walburga-Krankenhauses in Meschede. Man diagnostizierte seine Pockeninfektion und dachte, er sei isoliert und damit sei die Infektion unter Kontrolle. Dann erkrankten mehrere andere Patienten und Besucher an den Pocken. Man fand heraus, dass die Pockenviren durch die Entlüftung aus der Isolierstation in das Gebäude entkommen konnten.
Was unternahm man? Man machte, was man heute Kontaktverfolgung nennt. Alle Patienten des betroffenen Krankenhausgebäudes wurden ihrerseits isoliert, alle potentiell gefährdeten Besucher wurden aufgerufen sich zu melden. Dem Aufruf kamen alle nach, bis auf einen, dem seine Zeit zu kostbar war, um sie in der Quarantäne zu verbringen. Man richtete in der Mescheder Jugendherberge eine Quarantänestation ein und dachte wieder, alles unter Kontrolle. Dann erkrankte der Besucher mit der kostbaren Zeit. Jetzt wurden alle seine Kontakte gesucht und in Quarantäne geschickt. Zu diesem Zeitpunkt hatte man wirklich alles unter Kontrolle. Ergebnis: Vier Tote und viel schlechte Stimmung gegen Mescheder in der ganzen Republik.
Etliche Experten, darunter ein ehemaliger Gesundheitsamtschef aus Schleswig-Holstein, ein Schwindelarzt aus Hessen, ein amerikanischer und ein brasilianischer Präsident finden ja, dass Sars-Cov-2 harmloser ist als die Grippe. Diese Überzeugung lässt sich leicht gewinnen, wenn man die Todeszahlen vom Ende der letzten Influenza-Epidemie mit denen am Anfang der Covid-19-Epidemie vergleicht. Harmloser als die Pocken ist das SARS-CoV-2-Virus allemal. Nur war damals schon ein Großteil der Bevölkerung gegen Pocken geimpft, und – das ist für diesen Artikel wichtig – eine Pockenepidemie breitet sich erheblich langsamer aus. Die Inkubationszeit beträgt 12 – 14 Tage. Erst ein bis zwei Tage vorher ist der Infizierte selbst infektiös. Beim SARS-CoV-2-Virus ist die Inkubationszeit etwa fünf Tage. Leider streut der Erkrankte schon in diesen fünf Tagen das Virus; fast die Hälfte der Infektionen finden in diesen fünf Tagen vor dem Auftreten der Symptome statt.
Kontaktverfolgung ist wieder eine Möglichkeit, der Pandemie Herr oder Frau zu werden, und damit eine Alternative zu der hinter uns und vermutlich bald wieder vor uns liegenden Kontaktsperre. Allerdings ist klar, dass die erheblich größere Ausbreitungsgeschwindigkeit neue Herausforderungen mit sich bringt. Während in der Pockenepidemie noch die Arbeitsgeschwindigkeit sauerländischer Beamter reichte, um eine effektive Kontaktverfolgung zu machen, braucht es jetzt schnellere Verfahren.
Aber zwischenzeitlich haben die Informations- und Kommunikationstechnologien ja gewisse Fortschritte gemacht. Fast jeder Mensch hat so ein Klugfon in der Tasche. Also warum kann man diese Klugfons nicht benutzen, um Kontaktverfolgung zu machen, und zwar schnell genug? Dazu taten sich einige Leute, Epidemiologen, Nachrichtentechniker und Informatiker zusammen, um eine App zur Kontaktverfolgung zu bauen. Diese sollte einen Großteil der von jemand potentiell infizierten warnen und zu einem Test oder zur Quarantäne auffordern. Man muss wissen, dass die ursprünglichen Epidemien in Singapur, Südkorea, Taiwan und Hongkong mithilfe von Kontaktverfolgung und massiven Tests eingedämmt wurden. Kontaktverfolgung funktioniert also!
Die bei uns geplante App wird im Gegensatz zu den gerade erwähnten Apps extrem datensparsam arbeiten; sie wird nur die Näheinformation erfassen, nämlich dass sich jemand, der ein Handy bei sich hat, in einem potentiell infektiösen Zeitraum des Handyträgers mindestens 15 Minuten in höchstens 1,5m Abstand von ihnen aufgehalten hat. Dabei wird diese Information in Form eines Zahlencodes erfasst, der keine Rückschlüsse auf die Identität des Handybesitzers zulässt. Ebenso werden nicht der Zeitpunkt und der Ort des Beisammenseins erfasst.
Die ursprüngliche Version der App brauchte noch einen zentralen Server, der die Kontaktpaare berechnet und die potentiell infizierten benachrichtigt hätte. Zentrale Server sind sogenannte trusted parties, also Akteure, denen man vertrauen muss. Der geplante Server hätte beim Robert-Koch-Institut (RKI) gestanden. Kann man dem vertrauen? Man weiß ja, dass der Chef des RKI mit dem Chef des BND befreundet ist. Man fühlt förmlich das Misstrauen blühen!
Gegen die Lösung mit zentralem Server gab es aus gutem Grund einen Aufstand. Denn wenn es ohne geht, muss man sich nicht darauf verlassen, dass er sauber konzipiert und realisiert ist. Deshalb schlossen sich viele Informatiker diesem Aufstand an. Es ließ sich zeigen, dass es auch eine dezentrale Lösung, also ohne zentralen Server als trusted party gibt. Wohlgemerkt die beiden Lösungen unterschieden sich weder in der Technik des Aufspürens naher Personen, das ist Bluetooth Low Energy, noch in der Art der erfassten Information, noch in der Technik zum Anonymisieren der Handys.
Leider stellt sich heraus, dass gewisse Teile der intellektuellen Öffentlichkeit jetzt eine andere untrusted party entdeckt haben, nämlich die Informatiker. Entweder glauben unsere kritischen Intellektuellen nicht, dass die entwickelnden Informatiker lautere Absichten haben, oder sie bezweifeln, dass sie in der Lage sind, alle diese schönen versprochenen Eigenschaften auch zu realisieren.
Staatliche Überwachung?
An die Spitze dieser Bewegung setzt sich heldenhaft Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung mit seinem Reiz-Reaktions-Schema. Wenn jemand dubioses aus einer Ecke ruft, die Bürgerrechte sind bedroht, spuckt Herr Prantl verlässlich einen Text vorhersagbaren Inhalts aus. So auch in diesem Fall! In Prantls Blick: Freiwilligkeit, aus Angst geboren, 19. April 2020, breitet er seine von keiner Kenntnis getrübten Visionen aus. Schon der Untertitel fragt, ist dies „der Anfang einer großen staatlichen Überwachung?“ – ich behaupte mal schlicht, nein! Da wird geraunt, dass man damit evtl. den Alltag der Menschen regulieren könnte – ich wüsste nicht wie. Die Datenschützer sind lt. Prantl nur deshalb dafür, weil sie die am wenigsten schlimme von allen möglichen Apps ist. Dass nach dem Schwenk zu einer dezentralen Lösung sogar der Chaos Computer Club, Netzpolitik.org und die Republik für diese App sind, konnte Herr Prantl nicht mehr mitkriegen, weil das nach Erscheinen seines Artikels passiert ist.
Dann kommt er aber zu der Freiwilligkeit. Epidemiologen sagen, dass mindesten 2/3, Prantl sagt 80 bis 90% der Bevölkerung mitmachen müssen, damit die Pandemie eingedämmt werden kann. Er sieht einen unerträglichen sozialen Druck auf die Individuen entstehen, die App auf sein Handy zu laden und mitzumachen. Rhetorisch fragt er, „Wie freiwillig ist die Installation der App, wenn die Alternativen Lockdown und Kontaktverbot sind?“ Ja, mei, Prantl, welche bösen staatlichen Mächte haben uns denn vor diese Alternativen gestellt?
Genau dieses Gewese kennen wir doch von der unseligen Diskussion ums Impfen. Auch da ist eine von Epidemiologen berechnete Impfquote erforderlich, um Epidemien zu verhindern oder zumindest extrem unwahrscheinlich zu machen. Bei Masern liegt die bei rund 95%. In Europa gibt es Enklaven von Impfgegnern, z.B. den Bibelgürtel in den Niederlanden. Dort leben etwa 250.000 streng-reformierte Niederländer, deren Impfquote bei Masern bei 60% liegt, und die regelmäßig Ausbrüche mit vielen Infizierten haben. In Berlin gab es 2015 einen Masernausbruch mit über 1000 registrierten Fällen. Betroffen waren Kinder von Eltern, die Impfungen ablehnen und Flüchtlinge, etwa aus Syrien oder dem früheren Jugoslawien. In den USA kann man zwei verschiedene Strömungen gegen das Impfen beobachten; Konservative argumentieren typischerweise mit einem Freiheitsbegriff, der den sozialen Aspekt – meine Impfung schützt auch andere – außer Acht lässt, eher linke Eltern wollen wahlweise keine Chemie in ihre Kinder pumpen lassen oder dem (abgeschwächten) Virus nicht den Zutritt zu ihren Kindern gestatten. Ich frage mich da immer, ob das unabgeschwächte Virus diese Eltern freundlich um Erlaubnis bitten wird, ihre Kinder zu invadieren. Wieder einmal steigt auch der Oberexperte Trump in diese Diskussion ein, indem er die Größe einer Injektion zur Impfung etwa bei der Größe eines Pferdeeinlaufs ansiedelt und meint, man könne das doch Kleinkindern nicht zumuten.
Ironie der Geschichte: Eines der Opfer der Covid-19-Pandemie war eine geplante Demonstration von Impfgegnern in München.
Abschließend: Prantl&Co, unterstützt von den sich streitenden Zentralisten und Dezentralisten werden es schaffen, die Beteiligung an der Kontaktverfolgung per Corona-App zu reduzieren und dadurch den Erfolg der App zu verhindern und uns damit weitere Monate Kontaktsperre bescheren. Herzlichen Glückwunsch!