Oskar Lafontaine – der Systemsprenger


Von Wilfried Voigt

Seit Sahra Wagenknecht ihre eigene Partei (BSW) gegründet hat, ist auch das Interesse an ihrem Mann Oskar Lafontaine wieder gewachsen. Mit »staatstragenden« Medien will der 81-Jährige nichts mehr zu tun haben – es sei denn, sie bieten ihm eine Bühne für seinen besessenen Antiamerikanismus. Gut versteht sich der einstige Hoffnungsträger der SPD und der Linken dagegen mit Verschwörungstheoretikern und fanatischen Internet-Bloggern.

Die beiden Männer, die sich am 6. November 2023 in Saarbrücken zum Gespräch vor der Kamera treffen, verstehen sich prächtig. Vor allem politisch. Ihr Thema: »USA und Deutschland – eine schwierige Beziehung«.
Eingeladen hat der promovierte Historiker und selbst ernannte »Friedensforscher« Daniele Ganser, seit Jahren einer der bekanntesten und einnahmestärksten Verschwörungstheoretiker in den deutschsprachigen Ländern. Der Schweizer lässt keinen Zweifel aufkommen, wo er steht: ganz nah bei Oskar Lafontaine. »Es ist ja so, dass ich Ihre Arbeit sehr schätze, ich will das offen hier sagen. Ich habe auch Ihr Buch gelesen Ami go home.« Beide verbindet »die Kritik am US-Imperialismus«.
Damit nicht genug der Schmeichelei: Im Text zum Video-Gespräch auf Gansers YouTube-Kanal (mehr als 400.000 Abonnenten) bekommt Lafontaine eine Eins-plus: Der Mann von Sahra Wagenknecht sei »extrem klug, extrem schnell im Kopf, zudem hat er Mut und Durchsetzungsvermögen«.

Die Amis sind schuld

Der Gepriesene bedankt sich freundlich und versichert dem auch vom rechten Rand sehr geschätzten Schwurbel-Star, er sei »gern« seiner »Einladung gefolgt und zu unserem Gespräch gekommen, weil ich das sehr schätze, dass Sie zu denen gehören, die immer wieder versuchen, die Leute mit der Wirklichkeit zu konfrontieren«. Zwar macht Ganser das Gegenteil – aber das stört den Schnelldenker nicht. Diplom-Physiker Lafontaine fühlt sich sichtlich wohl in seiner und Gansers Wirklichkeit und kommt gleich zu einem seiner Lieblingsthemen: Die Amis sind schuld. Ganser lockt ihn mit einer scheinbar harmlosen Frage: »Warum sind immer noch 38.000 US-Soldaten in Deutschland?«
Der frühere Star von SPD und Linkspartei hat sofort eine Antwort parat, die das Herz von Verschwörungsgläubigen sicher höher schlagen lässt: »Heute ist es ja so, dass durch den Ukraine-Krieg, der mit einer riesigen Propagandawelle begleitet war, die Leute wieder glauben, die Russen bedrohen uns. Wenn wir heute abstimmen würden, dann würden sie für die NATO stimmen und für die US-Einrichtungen.«
Deshalb müsse man »versuchen, diese Propagandawelle zu durchbrechen«. Lafontaine diagnostiziert eine »Vergiftung, die eben eintritt, wenn man immer wieder die Lügen hört … und wenn eben diese Propaganda so lange wirkt, dass alle meinen, das ist ja der böse Russe, der hat uns angegriffen, und die USA brauchen wir, um uns zu schützen«. Der »linke Rechthaber« (die taz) weiß es: »Der Ukraine-Krieg ist ein seit Jahrzehnten vorbereiteter Krieg der USA gegen Russland, um Russland zu schwächen. Und nichts anderes.« Beifall von Daniele Ganser: »Das sehe ich genauso.«
Das Unterschlagen und die Verdrehung von Tatsachen, die Andeutung, böse Mächte wirkten im Hintergrund, sind Kern des Geschäftsmodells. Lafontaines wutbürgerlicher Mitteilungsdrang und Gansers skrupellose Geschäftstüchtigkeit ergänzen sich prächtig. Der ehemalige saarländische Ministerpräsident hofft, neue Wählerinnen und Wähler für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zu generieren – das Video wurde schon mehr als 550.000-mal angeklickt –, und der smarte, kommerziell und ideologisch erfolgreiche Verkäufer bizarrer Geschichten freut sich über die kostenlose Werbung durch einen Polit-Promi. Nach dem Gespräch mit Lafontaine absolviert Ganser noch einen Auftritt in der Saarbrücker Congresshalle.
Fast alle seine Vorträge in Deutschland, der Schweiz oder Österreich sind ausverkauft. Ganser füllt auch große Hallen mit mehreren Tausend Plätzen – vor allem aber sein Konto: Eintrittspreise bis zu 35 Euro lassen die Kasse klingeln. Allein die jährlichen Einkünfte aus seinen Vortragstouren werden auf einen hohen sechsstelligen Betrag geschätzt.
Wenn er als Verschwörungstheoretiker kritisiert wird, weil er beispielsweise bei seinen Vorträgen suggeriert, der Terrorangriff auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 sei womöglich von US-Geheimdiensten oder dem Verteidigungsministerium verübt worden, beklagt er schnell üble Diffamierungen. Er stelle doch nur Fragen. Ein in der Truther-Szene beliebtes Abwehr-Ritual. Sogar vor einem Vergleich mit der von den Nationalsozialisten ermordeten Sophie Scholl scheut er nicht zurück, um sich als Opfer zu stilisieren. »Sie hatten die Wahrheit auf ihrer Seite, der Krieg war auch damals ein Wahnsinn, sie wurden dann aber festgenommen und wurden enthauptet. Das heißt: Auch wenn du die Wahrheit auf deiner Seite hast, kann es sein, dass du getötet wirst.«

Daniele Ganser / Oskar Lafontaine: vereint gegen die USA. Quelle: Youtube

Die gesprengte Gasleitung

Ein Jahr später geht es wieder um die USA. Diesmal in der ARD-Live-Sendung »Hart aber fair«. Einen Tag vor der Präsidentschaftswahl am 6. November 2024 stellt Moderator Louis Klamroth die Frage: »Harris oder Trump: Verändert diese Wahl alles?« Wohl aus dramaturgischen Gründen hat die Redaktion die FDP-Europaabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann und das neben der Namensgeberin prominenteste und einflussreichste Mitglied des BSW eingeladen: Oskar Lafontaine. Die Journalisten wissen, dass diese Zusammensetzung für Schlagzeilen gut ist: Wenn sie aufeinandertreffen, fliegen die Fetzen.
Zwar sind ihm die »staatstragenden Medien« unterdessen ein Gräuel, aber wenn er schon mal zur besten Sendezeit von einem öffentlich-rechtlichen Sender eingeladen wird, nutzt der erfahrene Profi die Gelegenheit, von sich reden zu machen.
Während ganz Polit-Deutschland darüber diskutiert, ob nach der Wahl von Trump der Wehretat eventuell von zwei auf drei oder noch mehr Prozent aufgestockt werden muss, macht der Saarländer eine Gegenrechnung auf. Bevor die USA von Deutschland mehr Geld für die NATO verlangen, sollten die Amerikaner erst mal die Kosten für die von ihnen weggesprengte Gasleitung ersetzen: »Wir dürfen doch nicht so feige sein, darüber überhaupt nicht zu reden.« Das habe der scheidende US-Präsident Jo Biden selbst »vor aller Welt erzählt«. Dadurch sei ein »enormer Schaden für Deutschland und ganz Europa« entstanden. Der Moderator stutzt kurz, stellt dann aber entschieden klar: »Die führenden Medien gehen davon aus, dass es nicht die Amerikaner waren.« Lafontaine weist Klamroth für die Intervention zurecht: »Sie müssen unparteiisch moderieren.« Wenn es nicht die USA waren, sind es eben die Ukrainer, das ist dem BSW-Granden gleichgültig: »Und deshalb müssen wir denen viel Geld geben und viele Waffen liefern – zum Dank, weil sie uns die wichtigste Energieleitung weggesprengt haben?«
Lafontaine weiß um die Wirkung solcher Auftritte. Hauptsache, es wird darüber berichtet. In diesem Fall greift T-online.de (156,3 Millionen Webseitenbesuche im Oktober 2024) Lafontaines offensichtlich kalkulierte Attacke gegen die US-Regierung ausführlich auf.

Inszenierung als Lebenselixier

25 Jahre bevor Lafontaine zum Liebling von Internetaktivisten wie Daniele Ganser und Blogs wie den Nachdenkseiten, Rubikon (seit April 2023 Manova) oder KenFM (heute apolut.net) avanciert, lässt er sich gern von »Leitmedien« wie Spiegel, Zeit, Süddeutsche, Bild und den öffentlich-rechtlichen Sendern hoffieren. Die auch damals schon existierenden Verschwörungstheoretiker hatten mangels Vertriebskanälen noch wenig Einfluss auf die politischen Debatten.
So sind es die großen Printmedien und das Fernsehen, die hyperventilieren, als Lafontaine seinen ersten großen politischen Abgang inszeniert – den überraschenden Rückzug aus dem Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder (1998–2005) am 11. März 1999. Lafontaine hüllt sich tagelang in Schweigen, zeigt sich den belagernden Journalisten vor seinem damaligen Wohnhaus in Saarbrücken – lächelnd mit seinem kleinen Sohn auf den Schultern. Schließlich beklagt er sich über das »schlechte Mannschaftsspiel« in der Regierung.
Bis dahin gilt Lafontaine als das größte Talent der SPD. Im Saarland genießt er ein besonders hohes Ansehen: Dreimal hintereinander erringt er die absolute Mehrheit im Landtag: 1985 (49,2 Prozent), 1990 (54,4) und 1994 (49,4). Der »Napoleon von der Saar« (Selbstironie Lafontaine) ist bei älteren Saarländern noch heute beliebt. Vor allem in Saarbrücken. In seiner Amtszeit wird der als Rotlicht-Bezirk verrufene St. Johanner Markt zum Ausgehmagneten für Einheimische und Touristen umgestaltet. Auf Landesebene gelingt Lafontaine mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht eine temporäre Teilentschuldung des Saarlandes. Die Richter gestehen dem wegen der Kohle- und Stahlkrise völlig überschuldeten Land 1992 Sanierungshilfen über einen Zeitraum von 1994 bis 2004 zu: Insgesamt übernimmt der Bund in diesem Zeitraum rund 6,9 Milliarden Euro.
Vielleicht auch deshalb hegen im Saarland manche Sozialdemokraten noch die Hoffnung, dass er vielleicht doch wieder eine wichtige Rolle spielen könnte. Aber Lafon­taine entfremdet sich weiter. Er schreibt Bücher mit plakativen Titeln. In Das Herz schlägt links (erschienen im Oktober 1999) rechnet er mit Gerhard Schröder ab. Er kritisiert vor allem dessen neoliberale Sozialpolitik und formuliert auch seine Enttäuschung über das persönliche Verhalten des Kanzlers ihm gegenüber. Nebenbei erntet er so etwas wie Schmerzensgeld. Der Spiegel berichtet im Oktober 1999, Lafontaines Buch entwickle sich zum Hit des Bücherherbstes. Er habe vom Münchner Econ-Verlag ein »Garantie-Honorar« von rund 800.000 Mark erhalten.

Die Affären

Um viel Geld geht es auch, als der Spiegel 1992 die Pensionsaffäre aufdeckt. Es kommt heraus, dass Lafontaine zusätzlich zu seinen Bezügen als Ministerpräsident (1985–1998) seit 1986 mehrere Tausend Mark »Ruhegeld« monatlich für seine Amtszeit als Oberbürgermeister von Saarbrücken bezieht. Lafontaine weist jede Schuld von sich. Es handele sich um einen »technischen Fehler«. Nachdem renommierte Juristen und der saarländische Landesrechnungshof die Zahlungen als rechtswidrig einstufen, zahlt Lafontaine 1993 rund 228.000 Mark zurück. Die Zeit kommentiert damals: »Hohe Sterne fallen tief. Oskar Lafontaine war einmal eine der auffallenden politischen Begabungen der alten Bundesrepublik. Nun aber ist der Glanz dahin.«
Sein Renommee leidet erneut, als es wieder der Spiegel ist, der mit einer Geschichte über die Verbindungen von Lafontaine und Reinhard Klimmt ins Rotlicht-Milieu bundesweit Schlagzeilen auslöst. Als der Bordellbetreiber Hugo Lacour verdächtigt wird, einen Antiquitätenhändler ermordet zu haben, versucht er, über Reinhard Klimmt, damals saarländischer SPD-Fraktionsvorsitzender, Einfluss auf sein Verfahren zu nehmen.
Im Briefwechsel schreibt Klimmt dem »lieben Hugo«, er habe wegen der Sache mit SPD-Justizminister Arno Walter gesprochen. Der habe ihm »zugesagt, mich auf dem Laufenden zu halten und mich zu informieren, wenn sich die Sachlage ändert«. Ein sehr ungewöhnlicher Vorgang, da eigentlich nur Rechtsanwälte solche Auskünfte bekommen – und dies auch nicht über einen Justizminister.
Damit nicht genug. Als Lacour sich bei Totila Schott meldet, einem Mitarbeiter der Staatskanzlei und damals eine Art inoffizieller Bodyguard von Lafontaine, ist Kurt Bohr, Chef der Staatskanzlei, damit einverstanden, dass Schott im November 1992 nach Frankreich fährt, um Lacour zu treffen. Schott, der Lacour aus alten Zeiten kennt, versichert, es sei »ganz klar um Erpressung gegangen«. Es kursieren Gerüchte über angeblich kompromittierende Fotos aus dem Milieu. Im Landtag behauptet Lafontaine, diese Kontakte hätten »nicht mit Wissen des Ministerpräsidenten stattgefunden« – was Schott heftig bestreitet: »Noch an dem Tag, als ich von dem Treffen mit Lacour in Frankreich zurückkam, rief Bohr in meiner Anwesenheit den Ministerpräsidenten an und informierte ihn.« Ein beispielloser Vorgang, selbst im Saarland, dem die Frankfurter Rundschau das Etikett »Saarlermo« anheftet.
Unter großem Beifall der Saar-SPD beschimpft Lafontaine die Medien und erfindet den Begriff »Schweinejournalismus«. Die Leiche des Mordopfers wird zwar nie gefunden – das Saarbrücker Landgericht verurteilte 1997 den Zuhälter aufgrund starker Indizien dennoch zu lebenslänglich.
Nach dem Messerattentat auf ihn im April 1990 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Köln und der klaren Niederlage gegen Helmut Kohl bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 gilt er als empfindlicher. Gereizt reagiert er auf Berichte, die er als persönliche Angriffe erlebt. Zur Strafe lässt der damals noch unangefochten agierende SPD-Star das saarländische Mediengesetz verschärfen. So dürfen Gegendarstellungen nicht mehr am selben Tag von Verlagen oder Sendern kommentiert werden. Das Gesetz wird später von CDU-Ministerpräsidenten Peter Müller zurückgenommen.
Als Lafontaine schließlich im Mai 2005 die SPD verlässt und mit der neu gegründeten Gruppe »Arbeit und soziale Gerechtigkeit – die Wahlalternative« (WASG) ein Bündnis mit der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) eingeht, die sich zunächst in »Die Linkspartei. PDS« umbenennt, beginnt sein »Rachefeldzug« gegen die Sozialdemokraten. Seine mit großem Getöse begleitete Abwendung von den Sozialdemokraten hinterlässt eine Lücke, die die SPD bis heute nicht schließen kann.

Höhenflug mit Der Linken

Zum Entsetzen seiner früheren Genossinnen und Genossen erzielt die Linke am 18. September 2005 mit 8,7 Prozent einen überraschenden Erfolg bei der Bundestagswahl. Mit 54 Abgeordneten wird die Partei viertstärkste Fraktion im Bundestag. Lafontaine und Gregor Gysi teilen sich den Vorsitz. Eine Weile läuft es sehr gut in Berlin, 2009 steigert sich die Linke sogar auf 11,9 Prozent – wegen einer Krebserkrankung verzichtet der Saarländer auf den Fraktionsvorsitz. Kurzfristig sieht es so aus, als ziehe er sich aus der Politik zurück.
Mit Oskar Lafontaine, resümiert die Berliner Tageszeitung taz damals, »verlässt der letzte Charismatiker die Bühne, einer wie Franz Josef Strauß oder Joschka Fischer, einer, der politische Leidenschaften und Hoffnungen wecken und enttäuschen konnte wie kein Zweiter«. Die Enttäuschung überwiegt. Lafontaine, der Systemsprenger, zieht eine Spur politischer Verwüstung hinter sich her.
Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass greift Lafontaine Jahre später scharf an: »Es gab in der Geschichte der sozialdemokratischen Partei keinen schmierigeren Verrat, wie den von Oskar Lafontaine an seinen Genossen.« Gleichzeitig »alle Ämter niederzulegen, eine Wende um 180 Grad zu inszenieren, die eigene Partei in der Bild-Zeitung anzugreifen, dazu gehört eine Charakterlosigkeit ohnegleichen«.
Reinhard Klimmt, über Jahrzehnte einer der engsten Weggefährten Lafontaines, ist wohl der Politiker, der unter Lafontaines Flucht aus Schröders Kabinett am meisten zu leiden hat. Einerseits, versichert er in einem langen Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung im Mai 2010, habe sich an seinen »freundschaftlichen Gefühlen … überhaupt nichts geändert«. Die Freundschaft zu Lafontaine »ist und bleibt Bestandteil meines Lebens«. Zugleich geht er mit ihm hart ins Gericht. Dessen Ausstieg, so Klimmt zehn Jahre danach, sei »nichts anderes als ein blöder Blackout« gewesen: »Es war keine irgendwie politisch fundierte Aktion. Auch wenn er seither versucht, diesen Rücktritt nachträglich zu rationalisieren.«
Als nämlich Lafontaine1998 Bundesfinanzminister wird, beerbt Klimmt ihn als Ministerpräsident im Saarland. Klimmts Amtszeit währt jedoch nicht lange. Die saarländische SPD verliert im September 1999 knapp die Landtagswahl. Christdemokrat Peter Müller wird Ministerpräsident. Verantwortlich dafür macht Klimmt seinen Freund Oskar: »Ich hätte mit Sicherheit die Landtagswahlen gewonnen«, wäre Lafontaine damals »Parteivorsitzender geblieben und Fraktionsvorsitzender geworden«. Lafontaine hatte im März 1999 alle seine Ämter niedergelegt. Stattdessen, so Klimmt, »hat er uns, die wir für ihn leidenschaftlich und fast bedingungslos eingetreten sind, einfach im Stich gelassen und die Chancen, die wir gemeinsam hatten, verbaselt«. Die Enttäuschung sitzt tief. Der Süddeutschen Zeitung vertraut Klimmt an: »Ich weiß seitdem: Du kannst auf ihn nicht bauen.« Das sei nun mal »eine Charaktereigenschaft«, das sei, »wie wenn du einen Alkoholiker als Freund hast und der verspricht: nie, nie wieder – und dann kommt er eben doch wieder besoffen nach Hause«.
Gerhard Schröder holt Klimmt nach der verlorenen Landtagswahl als Verkehrsminister nach Berlin. Nach nur einem Jahr nimmt der Ausflug in die Bundespolitik ein jähes Ende. Er muss wegen einer Finanzaffäre beim Fußballclub 1. FC Saarbrücken zurücktreten. Gemeinsam mit dem saarländischen CDU-Politiker Klaus Meiser soll er dem Verein durch fingierte Beraterverträge mit der Caritas-Trägergesellschaft Trier mehr als 600.000 Mark verschafft haben. Die Staatsanwaltschaft wertet das als illegales Sponsoring. Wegen Beihilfe zur Untreue wird ein Strafbefehl über 27.000 Mark gegen Klimmt verhängt. Auch Klaus Meiser muss gehen, im November 2000 gibt er sein Amt als saarländischer Innenminister auf. Die Affäre macht den Weg frei für Annegret Kramp-Karrenbauer. Ministerpräsident Peter Müller beruft die Christdemokratin zur Nachfolgerin. Sie ist die erste Frau in dieser klassischen Männerdomäne.

Offene Wunden bei der Linken

Ein Vierteljahrhundert ist das alles her. Im September 2023 macht Reinhard Klimmt überraschend noch einmal bundesweit Schlagzeilen. Diesmal als Vermittler in einer als zerrüttet geltenden politischen Beziehungsgeschichte. Laut Stern ist es ihm gelungen, Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder zusammenzubringen – an den Esstisch im Haus des Ehepaars Lafontaine / Wagenknecht im saarländischen Merzig. Dort sollen sie sich laut Stern ausgesprochen haben. Klimmt habe dabei »keinerlei politische Motive«, ihm gehe es »offenkundig wieder um die menschliche, die emotionale Seite«.
Während Lafontaine für die SPD bereits (bittere) Geschichte ist, sind die Wunden, die er der Linken zufügt, noch nicht verheilt. Der zweite große politische Bruch in seinem Leben passiert im September 2021. Lafontaine verzichtet auf die Spitzenkandidatur zur Landtagswahl im Saarland. Begründung: Der Bundestagsabgeordnete Thomas Lutze, den Lafontaine entschieden ablehnt, habe seine erneute Nominierung nur durch Stimmenkauf erreicht. Lafontaine empfiehlt, die Linke nicht zu wählen.
Dabei ist es weniger der Zoff rund um Lutze, unterdessen Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion, der schließlich am 17. März 2022 zum Austritt Lafontaines aus der Linken führt. Er begründet seinen Entschluss unter anderem mit der »schleichenden Änderung des politischen Profils der Linken«. (Das kritisiert in den Talkshows landauf, landab gebetsmühlenartig auch Lafontaines Ehefrau Sahra Wagenknecht.) Die »Interessen der Arbeitnehmer und Rentner und eine auf Völkerrecht und Frieden orientierte Außenpolitik« stünden nicht mehr im Mittelpunkt, beklagt der Mitgründer der Partei. Das will er nicht länger mittragen. Auch wenn er weiß, dass dies die Existenz der Linken gefährdet. Für sie sind die guten Zeiten an der Saar allerdings ohnehin schon länger vorbei. Nach den sensationellen 21,3 Prozent 2009 mit Lafontaine als Spitzenkandidat sind es bei der vorgezogenen Landtagswahl 2012 noch 16,1 Prozent, fünf Jahre später sackt die Partei auf 12,8 und nach dem vernichtenden Aufruf Lafontaines schafft sie es mit 2,5 Prozent 2022 nicht mehr in das Landesparlament.

Ehepaar Wagenknecht/Lafontaine – BSW als Familienbetrieb. Foto: BeckerBredel

Peter Gauweiler als Freund

Seitdem hat Lafontaine Zeit, das Bündnis seiner Frau zu unterstützen, wo immer er kann. Dazu gehört, heute wie damals, die mediale Vernetzung. Christoph Schwennicke, Autor und Mitglied der Chefredaktion des reichweitenstarken Portals T-Online.de schreibt, zu seinem 80. Geburtstag 2023 habe Lafontaine »ein paar handverlesene Journalisten« zu Hause empfangen. Aber »nur die, die er einigermaßen leiden kann. Viele waren es nicht. Er kann nicht mehr viele leiden im politisch-publizistischen Komplex«.
Dafür hat er neue Freunde. Besonders eng ist sein Verhältnis zum CSU-Rechtsaußen Peter Gauweiler. Dieser hatte als Staatssekretär im bayerischen Innenministerium die brutalen Polizeieinsätze gegen die Gegner der atomaren Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf zu verantworten. 1997 mobilisiert er die radikale Rechte zum Protest gegen die in München Station machende Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht«.
Die beiden sind sich ausgerechnet als Kolumnisten bei der Bild-Zeitung nähergekommen, wie sie der Süddeutschen Zeitung im November 2015 in einem Gespräch schildern. Jeden Montag gemeinsam in der Bild nebeneinander. Das verbindet: »Es war einfach Sympathie, die sich in der Person und in der Sache, im Denken begründete«, sagt Lafontaine über Freund Peter. Und: »Es hat uns großen Spaß gemacht, ausgerechnet in der Bild gegen Krieg und Sozialabbau zu polemisieren. Deshalb war die Zeitung auch froh, als sie uns wieder loswurde.« Er vielleicht nicht. Denn sein monatliches Honorar soll 5.000 Euro betragen.
Als Lafontaine im Mai 2005 ankündigt, wieder politisch aktiv zu werden (für die Linke in den Bundestag) will die Bild-Redaktion die Zusammenarbeit beenden. Er besteht laut Spiegel jedoch auf Vertragserfüllung bis zum Januar 2006. Die Kooperation mit der Bild-Zeitung wird von vielen Linken in der SPD (und außerhalb der Partei) sehr kritisch bewertet. Die Springer-Zeitung gilt ihnen als rechtes Kampfblatt.

Die »Fremdarbeiter«

Zweifel daran, ob Lafontaine ein echter Linker ist, gibt es schon viel früher, spätestens 1990, als der Saarländer im Bundestagswahlkampf überraschend auf eine Verschärfung des Asylrechts drängt. Anlass sind laut Spiegel chaotische Zustände in der saarländischen Gemeinde Lebach im Sommer 1990, als sich rund 1.400 Roma-Flüchtlinge aus Rumänien vor dem örtlichen »Asylantenlager« drängen. Sozial-Staatssekretär Richard Dewes, als Vertreter der Landesregierung nach Lebach geschickt, stößt dort auf »blanken Hass« der Einheimischen. Dewes: »Da herrschte Pogromstimmung.« Volkstribun Lafontaine reagierte prompt. Das Asylrecht müsse »so gestaltet sein, dass die Bevölkerung es akzeptiert«. Ohne eine Änderung des Grundrechtsartikels sei eine sinnvolle Handhabung des Asylrechts nicht mehr möglich. Positionen, wie sie schon damals von CDU und CSU vertreten werden.
Im Mai 1993 beschließt die Regierungskoalition aus CDU / CSU und FDP, unterstützt von der SPD, schließlich eine einschneidende Verschärfung des Grundgesetzes, für die eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Die Möglichkeiten, erfolgreich einen Antrag auf Asyl zu stellen, werden dadurch drastisch eingeschränkt. Wer aus einem sicheren Herkunftsland einreist, hat keinen Anspruch mehr auf Asyl – gleich, von wo er ursprünglich geflohen ist. Eine günstige Lösung für Deutschland, das von EU-Staaten umgeben ist. In einem Rückblick kritisiert die Berliner Tageszeitung taz: »Heutzutage erhält weniger als ein Prozent der Asylbewerber*innen Schutz über die Regelungen im Grundgesetz. Stattdessen sind es die Genfer Flüchtlingskonvention und das EU-Recht, die zum Tragen kommen.« Dafür sind auch die Sozialdemokraten mitverantwortlich, forciert von Oskar Lafontaine.
Der Vorwurf, Lafontaine sei ausländerfeindlich, wird im Sommer 2005 wieder aktuell, als er als Spitzenkandidat für das neue Linksbündnis im Bundestagswahlkampf unterwegs ist. Bei einer Kundgebung in Chemnitz sagt er einen Satz, der ihm noch heute anhängt: »Der Staat ist verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter ihnen zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen.« Jutta Ditfurth, Mitgründerin der Grünen und einige Jahre deren Vorsitzende, wirft ihm vor, er habe »rassistischen Dreck« geschleudert. Lafontaine verteidigt sich gegen die Kritik, fremdenfeindlich zu sein. Er habe das Wort ohne jede diskriminierende Absicht verwendet. Gleichzeitig behauptet er laut Spiegel, die Nationalsozialisten seien rassistisch und nicht fremdenfeindlich gewesen. Er verlangt Beweise, dass der Begriff des Fremdarbeiters Nazi-Vokabular sei. Ein merkwürdiges Ansinnen.
Der Historiker Ulrich Herbert greift ihn daraufhin frontal an. Das Wort Fremdarbeiter komme in nationalsozialistischen Dokumenten dauernd vor. Ulrich: »Es gibt allein 600 Einzelerlasse zu dem Thema.« Der Professor wirft Lafontaine vor, seine Argumentation zeuge von »eklatantem Mangel an historischen Kenntnissen und einem Bild vom NS-Staat, das man so bislang nur ganz rechts kannte«.

Unterstützung für Antisemiten

Lafontaine hat sich auch den Vorwurf eingehandelt, er unterstütze Antisemiten. Im Dezember 2017 kommt es in Berlin zu einem heftigen Streit darüber, dass der Verschwörungstheoretiker und ehemalige Journalist Kayvan Soufi-Siavash alias Ken Jebsen im Kino Babylon einen Preis von dem obskuren Internet-Blog Neue Rheinische Zeitung (NRhZ) verliehen bekommen solle. Dies ruft Kultursenator Klaus Lederer (Linke) auf den Plan. Er drängt die Kinobetreiber dazu, die Veranstaltung abzusagen. Seine Begründung: Der Preisträger und andere Teilnehmer seien in der Vergangenheit »durch offenen, abgründigen Israelhass, die Verbreitung typisch antisemitischer Denkmuster und krude Verschwörungstheorien in Erscheinung getreten«. Er spricht von einem »Jahrmarkt der Verschwörungsgläubigen und Aluhüte«. Ihnen solle man keine Bühne bieten, schon gar nicht im Kino Babylon, das damals mit 400.000 Euro jährlich unterstützt wird.
Jebsen bekommt überraschend Verstärkung aus dem Saarland. Begriffe wie »Verschwörungstheoretiker« oder »Querfront« stammen nach Ansicht des Parteigranden Lafontaine aus dem Arsenal der Geheimdienste, um linke Politiker als »AFD-nahe« diffamieren zu können. Er hält seinen Parteifreunden in Berlin entgegen: »Ebenso wenig wie Berufsverbote können Auftrittsverbote Instrumente linker Politik sein.«
Seine Sympathie für »Alternativmedien« beschränkt sich nicht auf Jebsens – unterdessen abgeschalteten – Kanal KenFM. Besonders eng verbunden sind Lafontaine und Sahra Wagenknecht mit der Online-Plattform Nachdenkseiten (NDS), die ihr schon früh empfahl, es sei »wohl wirklich besser, sie gründete ihre eigene Partei«. Das 2003 von Wolfgang Lieb und Albrecht Müller entwickelte Medium erwarb sich zunächst einen guten Ruf als aufklärerisches, linkes Projekt. Lafontaine und Müller kennen sich noch aus alten Zeiten. Müller war Planungschef im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Von 1987 bis 1994 saß er für die SPD im Bundestag. Bei den NDS radikalisiert er sich allerdings derart, dass sein Mitgründer das Portal 2015 unter öffentlichem Protest verlässt. Müllers Wandel, erklärte Lieb, widerspreche seinem »Verständnis des Politischen und meinem Stil des öffentlichen Diskurses grundlegend«.
In einer Fallstudie zu den NDS kam der Trierer Politikwissenschaftler Markus Linden zu der Einschätzung, das Portal fungiere mittlerweile als »Scharnier für verschwörungstheoretisches Denken«. Die Redaktion macht im Wesentlichen die USA für den Ukraine-Krieg verantwortlich. Einer der fleißigsten Autoren des Blogs ist Oskar Lafontaine. Die Liste seiner Veröffentlichungen umfasst von Januar bis November 2024 immerhin 20 Beiträge.

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