Sadija Kavgić als Reporterin der Tageszeitung Večernje novine im belagerten Sarajevo neben einem improvisiert gepanzerten Fahrzeug an der ersten Frontlinie, 1992.

»Is allemol besser als e Kriesch«


Von Sadija Kavgić

Sadija Kavgić als Reporterin der Tageszeitung Večernje novine im belagerten Sarajevo neben einem improvisiert gepanzerten Fahrzeug an der ersten Frontlinie, 1992.
Sadija Kavgić als Reporterin der Tageszeitung Večernje novine im belagerten Sarajevo neben einem improvisiert gepanzerten Fahrzeug an der ersten Frontlinie, 1992.

»Die deutsche Sprache hat drei gleichklingende Diphthonge… ai/ei/ey wird aj ausgesprochen: z. B. Mai, ei, rein, Meyer…« Ich las im Praktischen Handbuch mit 4.000 Wörtern und Ausdrücken. Deutsch mit Aussprache, in jeder Situation, für jedermann. Das hatte ich noch in letzter Minute gekauft, bevor ich endlich in den Bus einsteigen durfte, der mich nach Deutschland bringen würde. Linienbus Zagreb – Mannheim.

Es war schon länger als einen Monat her, dass ich, glücklicherweise körperlich unversehrt, die umzingelte und gnadenlos misshandelte Stadt Sarajevo verlassen konnte. Nach acht Monaten des Überlebenskampfes unter Granaten, Scharfschützen, Nahrungsmittel- und Wassermangel und dem schlimmsten von allem: dem Freiheitsentzug.

Die erste Hürde, überhaupt aus der Stadt heraus zu kommen, war geschafft, danach musste die Grenze zu Kroatien erreicht und überquert werden. Nie werde ich diese erste Autofahrt, die mich in die Freiheit brachte, vergessen. Wer war der Soldat, der mich in seinem Auto über die Landesgrenze schmuggelte? Wir fragten einander nicht viel. Zu groß war die Angst, dass die Antworten mein Vertrauen zu ihm oder seinen Willen, mir zu helfen, hätten zerstören können. Vielleicht hätte sich ergeben, dass wir eigentlich Feinde sein müssten. So waren wir nur zwei Menschen. Er etwa 35, ich 26.

Er erschien mir als die letzte Chance, noch größeren Gefahren zu entgehen, bevor es dunkel würde, hier an der Grenze, wo ich niemanden kannte, kein Pfennig in den Hosentaschen. Möglicherweise hatte er auch schon Menschen getötet. Sich an Verbrechen beteiligt. Nichts wusste ich über ihn. Ich hatte einfach Glück. Ohne eine greifbare Gegenleistung brachte er mich in die Freiheit.

Niemals vorher und nie wieder nach dieser mehrstündigen Autofahrt durch die gespenstisch leeren Landstraßen nach Split spürte ich so deutlich die Kraft dieses erhabenen Gefühls der Freiheit.

Lebt er noch? Das werde ich wohl nie erfahren. Seinen Namen habe ich vergessen. Vergessen sind längst auch die unzähligen Dezembertage vor der deutschen Botschaft in Zagreb. Das Ausharren in der Kälte, um eine Nummer zu ziehen, um dem Schalter näher zu kommen, um den Vordruck für den Einreisevisumsantrag zu ergattern, um den Antrag zu stellen und viele Tage später den Reisepass mit dem Visum abzuholen. Gut, dass der Onkel so schnell eine Einladung und eine Garantie schicken konnte! Darin war er bereits erfahren, denn es waren bereits viele andere Familienmitglieder und Freunde nach Deutschland geflüchtet. Flüchtlinge ja, aber bitte mit einer persönlichen Einladung, hieß es damals. Später erst kamen viele auch als sogenannte Kontingent-Flüchtlinge über das Rote Kreuz. In Zagreb jedenfalls hatte es damals gewimmelt von schutzsuchenden Menschen. Bei einigen entfernten Familienmitgliedern, die schon länger da waren, fand ich einen engen, aber warmen Schlafplatz und endlich genug zu essen.

Der Sprachkurs, die Duldung und Herr Grimm

»Wie heißen Sie?«

»Ich heiße Čččić.«

»Das ist aber schwer. Woher kommen Sie?«

»Ich komme aus Sarajevo. Ich bin Journalistin.«

»Mein Name ist Wind. Ich komme aus St. Wendel. Ich bin Deutschlehrer.«

»Herr Wind, ich möchte Deutsch lernen. Schnell. Schneller. Am schnellsten!«

»Der einzige Deutschkurs, an dem sie teilnehmen können, findet zweimal in der Woche statt. Jeweils 1,5 Stunden.«

»Aber Herr Wind, diese Menschen aus Russland sind auch erst gekommen und dürfen jeden Tag mehrere Stunden Deutsch lernen! Ich will das auch. Bitte!«
»Sie dürfen aber nicht. Weil Sie ›Duldung‹ haben.«

»Was ist ›Duldung‹?«

»Ein anderes Wort für ›Aussetzung der Abschiebung‹.«

Was Duldung und ein, durch die Paragrafenbrille betrachtet, minderwertiger Pass bedeuten, können ich und all die Vertriebenen und Geflüchteten, die bis zum Ausbruch des Krieges stolze Besitzer eines der begehrtesten Pässe dieser Erde waren – des jugoslawischen – bis heute spüren. Nur diejenigen, die es irgendwie geschafft haben, einen kroatischen Pass vorzulegen, werden bevorzugt. Wohl wegen der historischen Verbundenheit mit Kroatien und strategischer Überlegungen.

Als einmal die VHS ein Sprachwochenende nach London organisiert hatte, da durfte ich nicht mit, weil ich ein Visum brauchte. Ein Jahr lang durfte ich in Deutschland mit meinem jugoslawischen Führerschein ganz legal Auto fahren. Doch danach musste ich 2.000 DM für eine deutsche Führerscheinprüfung ausgeben. Nur wegen des falschen Passes. Auch als Herr Wind eine Tagesbusfahrt nach Paris über die VHS organisierte, hätte ich nicht mitfahren dürfen. Wegen der Duldung – die sieht nämlich vor, dass das ausstellende Bundesland nicht verlassen werden darf. Niemals hätte ich mir so was vorstellen können: geflohen aus dem Krieg, gefangen im Saarland. Deshalb habe ich mir Paris nicht verbieten lassen und bin einfach mitgefahren. Ich dachte: Was kann mir nach Sarajevo noch passieren? Ich wollte glauben, frei zu sein. Doch der Schwebezustand sollte andauern.

Neinkährje (dt. Neunkirchen) ist eine ehemalige Hütten- und Kneipenhauptstadt des Saarlandes. Am schwersten zu knacken ist der Sprachcode, den die meisten Einheimischen benutzen. Allen voran Herr Grimm. Zu ihm, in den 10 Kilometer entfernten Ort Ottweiler mussten alle Flüchtlinge aus der Umgebung mindestens einmal im Monat. Wegen der Verlängerung der Duldung.

Dort in der Gegend wird noch komischer gesprochen als in Neinkährje. Weiter in gleicher Richtung befindet sich das hübsche Städtchen St. Wendel, wo der heutige saarländische Innenminister Klaus Bouillon 31 Jahre lang Bürgermeister war. Schon zu seiner Zeit gab es dort einen der schönsten Weihnachtsmärkte Deutschlands. Rundum sind viele Ortschaften, die Xxxweiler heißen. Lockweiler, Rappweiler, Naßweiler, Urweiler, Niederlinksweiler, Oberlinxweiler, Thalexweiler, sogar UR EX WEILER! Das gibt’s nicht? Doch. Das ist der Ort, wo vor einiger Zeit ein Kebab-Verkäufer von drei saarlännisch sprechenden und maskierten Unbekannten in seinem Laden brutal überfallen wurde. Die Ermittler hatten zwar noch nichts ermittelt. Hat aber genügt, um zu behaupten, dass es kein fremdenfeindliches Motiv war. In diesem Fall sprechen sie die gleiche Sprache wie die Ermittler in der 60 km entfernten ehemaligen Hüttenstadt Völklingen. Dort gibt es seit Jahren Brandstiftungen in von Migranten bewohnten Häusern, ein Täter wurde nie gefasst.

Es ist allerdings nicht selbstverständlich, dass in diesem knapp über 2.500 m² großen Land Menschen die gleiche Sprache sprechen. Die hier gelebten Dialekte sind eben vielfältig. Die leidenschaftliche Obernärrin des Landes, Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer, ist z. B. eine Tochter der Stadt Völklingen. Deshalb ist es durchaus vorstellbar, dass sie bei der Oberthaler Weiberfastnacht-Kappensitzung auch nicht alle Späßchen versteht. So kloor schwätze die do (dt. So interessant wird dort gesprochen).

Schlimmer erging es allerdings vor 23 Jahren den Flüchtlingen mit Herrn Grimm. Mit ihm war sowieso nicht zu spaßen, denn der Herr Grimm war, wie schon sein Name sagt, immer grimmig. Was er da, mit gesenktem Blick und grübelnd an seinem Schreibtisch in seinen Vollbart grimmte, hat wohl nie einer verstanden. Ihm waars Wurschd, der hodd ee die Flemm vonn allem! (dt. Ihm war es egal, er hatte eh genug von alledem).

Die Wohncontainer

Als der erste Tuberkulosefall bekannt wurde, begann die Stadtverwaltung in Neunkirchen, sich intensiver um die Flüchtlinge zu kümmern, die schon fast zwei Jahre in den Wohncontainern am Rande der Stadt leben mussten. 11 m² pro Familie. Mal 12. Eine gemeinsame Küche, Toiletten, Duschen und Waschraum. Menschen verlangten, in Wohnungen untergebracht zu werden.

»Ich habe eine Frage«, sagte der Berufskraftfahrer Milenko und wandte sich mir zu, weil ich als Dolmetscherin herbeigerufen worden war. In Milenkos Familie waren sowohl er, als auch seine Frau und die zwei pubertierenden Töchter etwas kräftiger gebaut. In Ihrem »Zimmer« konnten sie sich nie gleichzeitig bewegen. An jeder Seite ein Hochbett, so dass ein Vorbeikommen zweier Menschen dazwischen nicht möglich war. 

»Čččić, frag doch bitte Herrn Simon, frag ihn, ob er weiß, was Sex ist! Frag ihn, bitte!«

Herr Simon, ein etwa 35-jähriger Sozialarbeiter, der von der Stadt zu einem von den Flüchtlingen initiierten Gespräch geschickt worden war, blickt verlegen in die Runde.

»Kennst du das?«, rief Milenko, sein Becken wild vor- und zurückstoßend, während alle Versammelten gespannt warteten. Dann gab er mit einem langen Seufzer selbst die Antwort: »Du kennst es vielleicht, aber ich kenne es nicht mehr!« Ein verlegenes Kichern erfüllte den schmalen Korridor des Wohncontainers.

Nach einiger Zeit wurde dieser Container geräumt, die Menschen kamen in Wohnungen. Da dies kurz vor einem großen Pferdesportereignis auf dem angrenzenden Anwesen passierte, bleiben bis heute Zweifel, ob dies der Menschen oder der Pferde wegen geschah. Der Container mit seinen Satellitenantennen an jedem Fenster und den vielen Spielzeugen und Fahrrädern um ihn herum gab auch wahrlich kein schönes Bild ab.

Zeugnisanerkennung

Siebzehn Jahre später lebte ich in Saarbrücken. Meine Existenzgründung als freiberufliche Dolmetscherin war zunächst gescheitert. Als ich mich arbeitslos melden wollte, wurde mir die Zuteilung zum Hochschulteam bei der Bundesagentur für Arbeit verweigert. Ich durfte dort nicht einmal vorsprechen. Stattdessen wurde mein Journalistendiplom, das Ergebnis meines vierjährigen Universitätsstudiums, in die zweite von vier deutschen Bildungsstufen eingestuft. Schlechter konnte man nur abschneiden, wenn man gar keine Schule besucht hatte. Das traf mich weitaus schlimmer als damals, als ich, eine frisch angekommene junge Journalistin, in eine soziale Einrichtung zum Putzen geschickt wurde. Denn damals war ich einfach nur froh, am Leben zu sein, und konnte kein Deutsch. Jetzt aber wollte, musste ich mich wehren. Ich klagte gegen die Agentur. Seit meiner Scheidung bin ich auf Anwälte nicht gut zu sprechen. So nahm ich mir also keinen. Bekam aber viel Beistand von anderen Sachkundigen: zum Beispiel von Herrn Thomas Simon, Berater der Arbeitskammer, dessen plötzlicher Tod mich später sehr traurig machte. Nach zwei Jahren Prozessierens gewann ich schließlich gegen die Anwälte der Bundesagentur. Mein Diplom wurde anerkannt und einem deutschen Studium gleichgestellt. Doch die Zeit – die vergeht.

Auch Milenko hätte hier seinen Fahrerberuf weiter ausüben können – aber als die Duldung nicht mehr verlängert wurde, musste er nach Amerika weiterwandern und dort wieder neu anfangen. Adnan hätte hier als Chemietechnologe einen guten Job machen können. Stattdessen musste er nach Australien auswandern. Suzana war zu ihrer Zeit die Jahrgangsbeste Diplom-Finanzwirtin der Zagreber Uni. Nach jahrelangem Putzen in einer Arztpraxis in irgendeinem Xxxxweiler machte sie eine Umschulung und arbeitet heute als Krankenschwester. Jasna kam als Medizinstudentin. Wurde dann in eine Arztpraxis geschickt, wo sie Arzthelferin lernte. Als sie fertig war, machte sie die Ausbildung zur Krankenschwester. Heute arbeitet sie als Fachkrankenschwester. Hätte aber längst eine eigene Arztpraxis haben können. Habib kam als Bauingenieur – eine Zeitlang durfte er die Archive einer kleinen Kommune ausmisten. Eine richtige Arbeit hat er nie gefunden. Alles wegen Duldung, mangelnder Sprachförderung und fehlender fachlicher Beratung.

Politische Rechte

Als ich, frisch geschieden, nach Saarbrücken kam, engagierte ich mich enthusiastisch für die politischen Belange der Ausländer. In Deutschland herrschen große Ungerechtigkeiten im politischen Leben. Die Greise, die ihre Jugend und Gesundheit in hiesigen Hütten gelassen haben, sollen noch B1-Deutschkenntnisse nachweisen, wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit haben wollen. Wenn sie das nicht können, dann sterben sie eben ohne jemals die Chance gehabt zu haben, sich in das politische Leben dieses Landes einzumischen. Obwohl sie 40 und mehr Jahre hier lebten. Und das nur, weil sie einen falschen Pass haben.

Beispiel Sabina. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr lebt sie in Deutschland. Innerhalb von 23 Jahren ist sie eine erfolgreiche Businessfrau geworden. Vor zwei Jahren lernte sie einen Mann kennen. Bald zog er zu ihr nach Deutschland und war gerade mal sechs Monate in ihrer Wohnung gemeldet. Da die Kommunalwahl bevorstand, bekamen sie beide eine Einladung zur Wahl. Er für das Stadtparlament. Sie nur für den Ausländerbeirat – ein Fake-Parlament für die ewigen Gastarbeiter. Und das weil er den kroatischen und sie nur den bosnischen Pass hat.

Auf einer Informationsveranstaltung des städtischen Seniorenbeirats warb ich für das Kommunalwahlrecht für alle in Deutschland lebenden Menschen. Ein älterer Mann hörte mir aufmerksam zu und flüsterte mir dann vertraulich ins Ohr: »Hören Sie. Wenn die nächsten Wahlen in Saarbrücken stattfinden, dann müssen Sie mit mir kommen. Und dann können Sie in der Wahlkabine ein Kreuzchen nach Ihrem Wunsch machen!«

So liebenswert können die Saarländer sein. Das haben viele jugoslawische Flüchtlinge bei ihrer Ankunft vor 23 Jahren hautnah erfahren und denken bis heute mit größter Dankbarkeit daran. Meist wollen die Saarländer Gutes tun. Bei der Verwirklichung setzen sich dann des Öfteren aber andere Interessen durch. So sind z.B. alle Verwaltungsebenen, angefangen von der Landesregierung, seit gefühlter Ewigkeit bemüht, Menschen mit »Migrationshintergrund« in ihre Arbeitnehmerschaft zu integrieren. Doch bisher klappt das offenbar nur beim Verfassungsschutz ziemlich gut. Da wimmelt es nämlich von »migrantischen« V-Männern, die »ihre« Landsleute ausspionieren sollen.

Eins hat das Saarland übrigens, neben dem Bergbau, mit Bosnien gemein: so viele Verwaltungsebenen: Landesregierung, Landkreise, Regionalverband, Kommunen … Deshalb kommt das Land auf keinen grünen Zweig. Weder das Saarland, noch Bosnien.

Irgendwann habe ich dann doch beschlossen, mich einbürgern zu lassen. Meine Seele war am Zerreißen, weil in meinem Fall die doppelte Staatsangehörigkeit nicht vorgesehen ist. Darüber wurde ich wütend und traurig, ich bemitleidete und tröstete mich selbst. Ich führte Selbstgespräche: »So wie ich jetzt, so muss sich ein Kind fühlen, wenn es entscheiden soll, ob es bei der Mama oder beim Papa leben will. Es liebt beide. Und muss trotzdem eine Entscheidung treffen… Na, unn? Du bist ein gutes Kind! Aber dein Pass ist Schneiße… Heersche awei uff, deujenanna ze schwätze. Un mach kää Ding. Es iss wies iss! Iss allemol besser als e Kriesch!« (dt. Na, und? Jetzt hör doch auf, so durcheinander zu sprechen. Mach kein Problem daraus. Es ist so, wie es ist. Es ist doch auf jeden Fall besser als ein Krieg).

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