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Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte der Holzhacker das tägliche Brot nicht mehr schaffen.

Hänsel und Gretel, Verzeihung, Annegret und Heiko, regieren dieses Land seit einem Jahr. Vor nicht allzu langer Zeit wurde die Mär gebracht, daß ihr Land alsbald viel sparen müsse, um kein fremdes Geld mehr aufzunehmen. Dies heißet man die Schuldenbremse und ward ein böser Fluch. Und Hänsel und Gretel, pardon, Annegretel und Heiko, durften nicht mehr in der warmen Stube bei Vater und Mutter bleiben, sondern wurden verjagt. Damit sie sich aber nicht ganz und gar verlaufen würden, nahmen sie ihr Poesiealbum mit.

Der vorliegende Koalitionsvertrag wird dabei Richtschnur und Grundlage unseres politischen Handelns sein.

Darin stehen Sätze, die ihnen Mut machen.

Bei der Bewältigung dieser großen Zukunftsaufgaben brauchen wir Geschlossenheit, Handlungsfähigkeit und den Mut, Prioritäten zu setzen.

Sie wandern in einen tiefen, tiefen Wald voller Unbill und schrecklicher Verwünschungen.

Ausgehend von den durch die Schuldenbremse vorgegebenen Defizitobergrenzen und unter Beachtung der Notwendigkeit, die beim Stabilitätsrat für den Zeitraum bis 2016 anzumeldenden jährlichen Nettokreditaufnahmen in gleichmäßigen Schritten zurückzufahren, sind aus heutiger Sicht jährliche Konsolidierungsbeiträge in Höhe von 65 Mio. EUR erforderlich.

Zitternd lesen sie in ihrem Album aufmunternde Sinnsprüche.

Chancen nutzen. Zusammenhalt bewahren. Eigenständigkeit sichern.

Der Wald aber steckt voller böser Flüche und süßer Verlockungen.

Wir wollen gute Arbeit in einer starken Wirtschaft.

Als Kinder haben sie gelernt, wenn die Stiefmutter gar zu garstig war, daß man die Äuglein schließen und an das Gute glauben muß.

Wir müssen die seit Jahren anhaltende wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung auf hohem Niveau halten.

Zuweilen schwirren ihnen die Köpflein vor lauter Kümmernissen.

Wir müssen die Rückführung der öffentlichen Neuverschuldung auf der Basis der Schuldenbremsen-Vereinbarung konsequent fortsetzen.

Einmal wird es ganz still um sie. Schüchtern heben sie die Hand zum Schwur.

Beide werden ihr Handeln dabei am Prinzip der ökologischen, ökonomischen und sozialen Vernunft ausrichten.

Ängstlich aneinandergeschmiegt, pfeifen sie trotzig ein Liedchen vor sich hin.

Die Koalitionspartner bekennen sich zur Gestaltung eines zukunftssicheren Saarlandes.

Oft denken sie wehmütig an ihr Zuhause zurück und fangen an zu träumen: Wenn sie herausfänden, wohnten sie wieder bei Vater und Mutter – gar in einem schönen großen Haus.

Wir wollen ein Saarland als Modellregion im Herzen Europas.

Schöne große Häuser aber sind teuer, hat ihnen die Mutter immer barsch gesagt. Und daß es besser ist, alte Gemäuer wieder herzurichten.

Sanieren und Investieren sind zwei Seiten einer Medaille.

Der Vater hat ihnen vor langer Zeit noch ein paar Brocken auf den Weg gestreut. Davon zehren sie voller Hoffnung auf eine Rückkehr.

Die Möglichkeit der Anhebung der Steuern auf große Erbschaften wird unter Berücksichtigung von Aspekten der Verfassungsgemäßheit und der Sozialverträglichkeit geprüft.

Ganz egal jedoch wohin Annegretel und Heiko sich auch wenden, aus dem finsteren Wald führt nur ein einziger Weg hinaus:

Alle im Koalitionsvertrag dargestellten kostenwirksamen Vereinbarungen stehen unter einem allgemeinen Haushaltsvorbehalt.

Finis
* * *

Vielleicht werden wir dieses Märchen dereinst, möglicherweise schon im nächsten Heft, in anderer Form fortsetzen können, nämlich dann, wenn sich in der saarländischen Regierungspolitik wirklich einmal etwas Berichtenswertes ereignen sollte.

In diesem Heft berichten wir dagegen überwiegend aus den schönen Künsten, in denen Märchen, trotz leerer Kassen, bisweilen immer noch wahr werden – gerahmt wird dieser Schwerpunkt von Beiträgen zur saarländischen (Zeit-)Geschichte und unseren bekannten Rubriken Galerie, Literatur und Rezensionen.

Im letzten Heft hatten wir ein bedenkliches Buch des Germanisten Günter Scholdt vorgestellt. Erwartbar bekamen wir darauf einige empörte Zuschriften, von Unterstützern Scholdts und von diesem selbst. Wortwahl und Ton seines Leserbriefs waren beleidigend für unseren Autor, spätestens das Kommando: ›Abdruck, ganz oder gar nicht‹ hindert uns genau daran. Prof. Scholdts Beitrag zu einer Debatte, die wir nicht führen wollen, soll aber nicht verschwiegen werden; er findet sich auf seiner Internetseite www.scholdt.de. – Es haben sich auch honorige Menschen an uns gewandt, mit der Ansicht, wir müßten Scholdt mißverstanden haben, und der Bitte, ihm hier ein Forum zu geben. Nicht ganz unerwartet wollen sie sich aber selbst nicht öffentlich zur Causa äußern. Wir bedauern. ›Lesen Sie bitte Scholdts Elaborat‹, war unsere Antwort. Aktuell ist es vergriffen, wird aber nachgedruckt, wie die einschlägige Edition Antaios mitteilt. Dort ist bereits ein nächstes Werk aus der Feder von Günter Scholdt angekündigt, man findet es auch annonciert auf Webseiten wie nordstern-versand.com, neben »Freikorps«-Jacken und Anti-Israel-T-Shirts. Leider kein Märchen.

Die Redaktion

5 Saarland Märchenland

Saarländische Zustände

8 Bernhard Dahm

Völklingen: Zurück zur Tagesordnung?

Ein untauglicher Versuch der Vergangenheitsbewältigung

12 »Das ist eine Chuzpe«
Interview mit Jossi Jakob und Offener Brief an den Völklinger OB

Film

15 »Feigheit macht jede Staatsform zur Diktatur«

Ein Gespräch mit den Initiatoren der Wolfgang-Staudte-Gesellschaft Uschi Schmidt-Lenhard und Andreas  Lenhard

Gonzo

21 Bernd Nixdorf

Die Vision des lebendigen Moments

Was hat ein Schiff an Land mit Erkenntnis zu tun? 

Tanz

25 Tanz. Ballett. Choreographie

Till Neu im Gespräch mit Marguerite Donlon

Kunst

35 Sabine Graf

Teuer kann jeder

Die Selbstvermarktungsstrategie des Markus Himmel

Galerie

40 Ausstellungsansichten von Gregor Hildebrandt

Kunst

45 Georg Bense

Poesie der Objekte

Jean Prouvé – Designer, Konstrukteur und Architekt

Musik

49 Stefan Fricke

Erinnerung an Theo Brandmüller

53 »Entweder komponieren oder überhaupt nicht leben«

Friedrich Spangemacher im Gespräch mit Tzvi Avni

Literatur

58 Bernd Nixdorf

Melancholia

61 33 moments de bonheur

Von Ingo Schulze – in der Übersetzung von Alain Lance
und Renate Lance-Otterbein

66 Herbert Temmes

»… zeitlebens ein dichterischer Eklektiker«

Leben und Werk des Lyrikers Karl Christian Müller in
Torsten Mergens Dissertation

Zeitgeschichte

71 Harald Glaser
Warndtkohle, Saarfrage und Grubensteuer
Die Verpachtung von Kohlefeldern im Warndt an lothringische Bergwerke und ihre politischen Folgen

Rezensionen

89 Hans Gerhard: Alles was wir brauchen (Martin Schmitt)

90 Wolfgang Brenner, Hubert im Wunderland (Georg Bense)

93 Werner Brill, Pädagogik der Abgrenzung (Herbert Temmes)

Georg Bense, geb. in Köln, aufgewachsen in Stuttgart, Fernsehjournalist, Autor, Regisseur und Kameramann zahlreicher Filme für ARD, ZDF und arte.

Julian Bernstein, geb. 1981 in Saarbrücken, Studium der Französischen Kulturwissenschaften und der Interkulturellen Kommunikation, seit 2007 Veröffentlichungen in der Berliner Wochenzeitung Jungle World.

Bernhard Dahm, geb. 1953, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Asyl- und Ausländerrecht.

Sabine Graf, Dr., geb. 1962 in Zweibrücken, Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität des Saarlandes, Promotion über den Schriftsteller Otto Flake und dessen publizistisches Werk zwischen Selbstverständigung und Selbstinszenierung. Arbeitet als Autorin und Kunstkritikerin.

Stefan Fricke, geb. 1966 in Unna, Studium der Musikwissenschaft und Germanistik, Mitglied im Bundesfachausschuß Neue Musik des Deutschen Musikrats, Redakteur für Neue Musik beim Hessischen Rundfunk.

Harald Glaser, Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik, Staatsexamen, M. A., historische und museumsdidaktische Projekte zur Völklinger Hütte und zur Alten Schmelz St. Ingbert, Veröffentlichungen und Ausstellungen zur Industriegeschichte, Mitarbeit an der »Route der Industriekultur« im Ruhrgebiet, z. Zt. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Dokumentationszentrum der Arbeitskammer des Saarlandes.

Till Neu, geb. 1943. Studium an der Staatl. Werkkunstschule, der Universität des Saarlandes und der Hochschule für Bildende Künste in Kassel. Promotion in Kunstgeschichte über Grundlagen der Gestaltung. Zwei Berufe: Künstlerische Arbeit und Lehre. 1984–2004 Professor an der Universität in Frankfurt am Main (Grundlagen, Malerei, Kunstgeschichte am Institut für Kunstpädagogik). Ausstellungen seit 1968. Lebt und arbeitet in Saarbrücken und in Villes-sur-Auzon. Letzte Ausstellungen: altes weltbild (Saarländischer Landtag, Saarbrücken 2013); le bien et le mal (Saarländisches Künstlerhaus, Saarbrücken 2012); bilder orte berlin potsdam (Saarländische Galerie am Festungsgraben, Berlin 2010).

Bernd Nixdorf, geb. 1961 in Saarbrücken, wo er lebt und schreibt. Aktuellste Veröffentlichung: Erzählung Wassergeister in der Literaturzeitschrift Streckenläufer 30 (Frühjahr 2013).

Martin Schmitt, geb. 1968 im Saarland. Studium der Germanistischen Literatur- und Sprachwissenschaften und der Philosophie an der Universität des Saarlandes; Schwerpunkte Literatur der Moderne und der Avantgarden, Trivial- und Populärkultur, postmoderne Literaturtheorien und Film. Dissertation zur Kürzestprosa von Ror Wolf. Z. Zt. beschäftigt bei einem Weiterbildungsträger. Schreibt regelmäßig für Literatur- und Filmzeitschriften (v. a. für das Deadline Magazin), hält Vorträge.

Friedrich Spangemacher, geb. 1950, Musikwissenschaftler, seit 1988 beim Saarländischen Rundfunk als Leiter der Programmgruppe Musik und Stellvertretender Programmchef SR2 sowie Stellvertretender Musikchef. 1991–1999 Künstlerischer Leiter des SR-Festivals »Musik im 20. Jahrhundert«. Seit 1999 Mitglied in der »Music Experts Group« der Europäischen Rundfunkunion (EBU), seit Mai 2009 Chairman der »Music Experts Group«.

Herbert Temmes, geb. 1969, Studium der Geschichte und Germanistik; MBA Gesundheitsökonomie; Geschäftsführer der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft LV Saarland e. V.