Heft #123


Liebe Leserinnen, liebe Leser,

There‘s life in the old dog yet – so klingt es auf Englisch, wenn die Rede ist von den Totgesagten, die länger leben. Beide Sprichwörter beschreiben zutreffend den momentanen Zustand der Saarbrücker Hefte. Wie Sie bereits wissen, haben im Jahr 2020 der Saarbrücker Oberbürgermeister Uwe Conradt und die Stadtratskoalition aus CDU, Grünen und FDP die städtische Förderung der Saarbrücker Hefte eingestellt.
Die ominösen Pläne für ein Gutachten, das nach 65 Jahren klären sollte, ob die Hefte überhaupt zur Kultur gehören und aus dem Kulturetat der Stadt gefördert werden können, haben sich in Luft aufgelöst. Tatsächlich hatte Torsten Reif, der bei der Wahl am 8. Juni 2021 gescheiterte Grünen-Kandidat für das Amt des Kulturdezernenten der Landeshauptstadt, im Frühjahr 2021 signalisiert, dass ein Weg gefunden würde, den Druckkostenzuschuss für die Hefte in Höhe von 10 000 Euro zumindest für ein weiteres Jahr zu übernehmen. Nichts da. Stattdessen haben die Grünen bereits zweimal gegen die Unterstützung der Saarbrücker Hefte aus dem städtischen Etat gestimmt und gemeinsam mit CDU und FDP beschlossen, ein stadteigenes Amtsblatt für 180.000 Euro im Jahr zu finanzieren. Mit diesem Geld wäre die Existenz der Saarbrücker Hefte für weitere 18 Jahre gesichert. Ist sie leider nicht.
So bleiben die LeserInnen der Saarbrücker Hefte die wichtigste Stütze der Zeitschrift. Ein Abonnement oder eine Spende für eine informative und anregende Lektüre – so erhalten Sie unabhängigen Journalismus.


In der 123. Ausgabe der Saarbrücker Hefte widmet sich unser Redakteur Wilfried Voigt dem sich zuspitzenden Konflikt bei den Grünen an der Saar. Im Mittelpunkt der parteiinternen Auseinandersetzungen steht – wieder einmal – Hubert Ulrich, der seit 30 Jahren die Partei dominiert. Im Gespräch mit den Saarbrücker Heften greift ihn Grünen-Vorstandsmitglied Marita Mayers scharf an. Sie wirft ihm »strukturelle und soziale Gewalt« gegen einzelne Personen und kleine Gruppen in der Partei vor. Kritik gibt es auch vom Bundesvorstand. Der erwartet von den Saar-Grünen, wie ein Sprecher gegenüber den Heften erklärte, dass sie »bei den kommenden Listenaufstellungen« endlich das Frauenstatut umsetzen und beanstandet, dass die Mitgliedsbeiträge im bundesweiten Vergleich viel zu gering seien.
Im Fall des durch einen rassistischen Brandanschlag 1991 in Saarlouis ermordeten Samuel Kofi Yeboah, mit dem wir uns im Heft 122 ausführlich beschäftigt haben, gibt es endlich ernsthafte Ermittlungen und einen Tatverdächtigen. Auch die Stadt hat die neonazistischen Gründe der Tat anerkannt.


Von Saarlouis nach Saarbrücken. Hier hat der Oberbürgermeister Uwe Conradt einen Feldzug gegen Aufkleber auf Laternen und Stromkasten gestartet. Darüber haben sich Laura Weidig und Dennis Kundrus Gedanken gemacht und fragen »Wem gehört die Stadt?«
Das Saarland und seine Landeshauptstadt sind in vielem einmalig – das verkünden oft die Landesregierung und ihre PR-Strategen. Das stimmt. Es gibt kein zweites Bundesland, das keinen Botanischen Garten hat. Der 1952 gegründete Jardin Botanique de la Sarre wurde vor fünf Jahren trotz bundesweiter Proteste geschlossen. Einmalig ist vermutlich auch, dass sich die einzige Ausländerbehörde im Land nicht mehr in der Landeshauptstadt befindet, sondern in die schwer erreichbare saarländische Provinz verlegt wurde. Die Hefte beschreiben die fatalen Abläufe und ihre Folgen für die SaarländerInnen.
Unser Autor Erich Später widmet sich dem langjährigen Präsidenten des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und Erfinder des Sportachtels im Saarland Hermann Neuberger. Wieso wird dieser Mann, dem die gute Laune bei einem Fußballfreundschaftsspiel wichtiger war als das Leben der damals 30-jährigen Elisabeth Käsemann, deren mögliche Rettung aus der Folterkammer der argentinischen Militärjunta er verweigerte, im Saarland geehrt? Er ist Namensgeber diverser Preise, Straßen, Turnhallen, einer Sportschule und sogar einer Gesamtschule in seiner Geburtsstadt Völklingen.
Von Völklingen aus über Wehrden in den Warndt führt uns diesmal unser »Lokalredakteur« Ekkehart Schmidt. Er beschreibt, wie die aufgesuchten Lokale die Pandemie überstanden haben. Oder auch nicht. Wir decken auf, ob sich das Lokal »Zum Kraftwerk« bald in »Zum Amazon-Verteilzentrum« umbenennen wird, folgen ihm morgens in eine vermutete »rotlichtige Spelunke« und entdecken in einem anderen Lokal das Originalgraffiti aus dem Jahr 1793 »Vive la République«.
Es war das nach 1945 entstandene autonome Saarland, das überlebenden Juden das Angebot und Mut machte, in diesem Land eine alte oder neue Heimat zu finden. Bereits 1951 wurde die neu erbaute Synagoge eingeweiht. Dies war der erste Neubau einer Synagoge im deutschsprachigen Raum nach der Shoah. Laura Weidig beschreibt Stationen aus der Geschichte der Synagogengemeinde bis in die Gegenwart.


Unser Autor Ralph Schock erinnert an den vor 50 Jahren in Saarbrücken abgehaltenen NS-Prozess gegen den KZ-Kommandanten Fritz Gebauer wegen mehrfachen Mords. Und Oliver Siebisch rekonstruiert den gegen den Jazzpionier Eric Borchard vor 90 Jahren vor dem Landgericht Saarbrücken geführten Prozess wegen fahrlässiger Tötung. Sie dürfen raten, wer von den beiden seine Strafe im Gefängnis absitzen musste.
Die Galerie in diesem Heft gehört einem Künstler der besonderen Art – Volker Schütz. Besonders beliebt ist er durch seine Serie der zaubervollen Pilze geworden, die plötzlich in den Wäldern erschienen, nachdem der Künstler dort seine Sporen hinterlassen hatte. Was er mit seiner Körperteilverlängerungsmaschine angestellt hat und in welcher Form sich auch ein Virus in seinem Atelier ausbreitet, sehen sie ab Seite 76.
Um auf die Lebensweisheiten vom Anfang des Textes zurückzukommen: Wir planen weiter. Die nächste Ausgabe der Saarbrücker Hefte möchten wir vor Weihnachten dieses Jahres herausbringen. Für Ihre Unterstützung, Ihren Zuspruch und Ihre Kritik danke ich Ihnen im Namen der Redaktion.

Sadija Kavgić

Editorial
Sadija Kavgić

Titel
Wilfried Voigt
»Geschämt, Grüne zu sein« – Bizarres Spektakel auf dem Parkdeck
»Es war wie eine Invasion – wir sollten gekapert werden«

Zeitgeschehen
Laura Weidig
Mordfall Samuel Yeboah – Neue Entwicklungen

Dennis Kundrus und Laura Weidig
Der Saubermann
Ein Kommentar zu plakativen Reinigungsaktionen

Sadija Kavgić
Fahren Schulkinder jetzt nach Metz?
Chronik der Zerstörung des Botanischen Gartens in Saarbrücken

Bernhard Dahm
Abschiebung nach Lebach
Überraschender Umzug der Ausländerbehörde

Gertrud Selzer
Fairer Handel im Saarland
Ist eine bessere Welt käuflich?

Werner Ried
»Einfach der schönere Tesla!«

Laura Weidig
Geste der Entschlossenheit
Vor 75 Jahren gründete sich die Synagogengemeinde Saar neu

Geschichte

Erich Später
Der Kamerad Neuberger

Ralph Schock
… Der Tod war näher
Ein Saarbrücker NS-Prozess vor 50 Jahren

Johanna Henkel
Der Gebauer-Prozess

Oliver Siebisch
Jazzpionier Borchard auf der Anklagebank

Feminismus
Isabelle Bastuck
Mystikerinnen im Feminismus
In Saarbrücken grassiert der spirituelle Feminismus. Zwei Fallbeispiele.

Kultur

Reinhard Wilhelm
Einer von 80 Millionen SR2-Hörern beschwert sich

Bülent Gündüz
Sagt ihre Namen! Mit #saytheirnames erinnerte die deutsch-iranische Künstlerin Natascha
Sadr Haghighian an die Opfer rechter Gewalt in Deutschland.

Reinhard Wilhelm
Skifahren im Saarland

Ekkehart Schmidt
Von Wehrden in den Warndt
Dorfkneipen in Zeiten der Pandemie

Galerie
Marina Hetheier
Zu Besuch bei Volker Schütz
Der Mann mit der Game-Boy-Kamera

Literatur
Jan Thul
Rituale

Rezensionen

Klara-Katharina Bost
Ursache und Wirkung: Ein kleines, aber feines Detail
»Gestern war ein sehr schwerer Tag für uns hier in St. Ingbert«, Hg. Heidemarie Ertle

Anne Lehnert
Von der Kunst stehen zu bleiben
»Prager Hinterhöfe im Frühling«, Hg. Alena Wagnerová

Jonas Boos
Immer im Wandel! Ständig in der Krise?
»Die Strukturkrise an der Saar und ihr langer Schatten«, Hg. Dr. Hans-Christian Herrmann

Autorinnen und Autoren

Isabelle Bastuck, geb. 1994, Studium der Germanistik, Philosophie sowie Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft.

Jonas Boos lebt und arbeitet in Saarbrücken. Studium der Volkswirtschaftslehre (Diplom) an der Universität Trier.

Klara-Katharina Bost beschäftigt sich derzeit sowohl wissenschaftlich als auch journalistisch mit der Kritik irrationaler Weltanschauungen, von Antisemitismus über Esoterik und religiösen Fundamentalismus bis zu Verschwörungsphantasmen.

Bernhard Dahm, geb. 1953, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Asyl- und Ausländerrecht.

Bülent Gündüz, Kunsthistoriker, geboren 1971 in Saarbrücken. Volontariat und Redakteur beim Kunstmagazin ArtsJournal. Seit 2001 arbeitet er als Kunstkritiker für verschiedene Medien und schreibt Katalogbeiträge zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Er veröffentlicht Bücher zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte, darunter auch die 2013 im Parthas Verlag verlegte Biografie zu Jackson Pollock. Seit 2019 ist er Mitglied des Kunstkritikerverbandes AICA.

Johanna Henkel, geb. 1997 in Saarlouis. Abitur 2015 in Merzig und Bachelor der Politikwissenschaft in Berlin. Seit 2019 Masterstudium Demokratische Politik und Kommunikation in Trier.

Marina Hetheier lebt in Saarbrücken und arbeitet als Korrektorin, Lektorin und freie Textschaffende. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Faible für Textgestaltung und -entwicklung sowie medienübergreifende Projekte in Kunst, Film und Musik. Lektorat des Buches Ein Hauch Vergangenheit (2014) von Mohsen Ramazani-Moghaddam, Text und Redaktion der Porträtserie Malstatter Menschen (2018).

Sadija Kavgić, Journalistin und Übersetzerin. Geboren in Tuzla, Jugoslawien. Infolge der Belagerung von Sarajevo 1992 bis 1996 kam sie nach Deutschland. Publiziert in Deutschland und Bosnien und Herzegowina. Lebt in Saarbrücken.

Dennis Kundrus, lebt und arbeitet in Saarbrücken. Studium der Geschichtswissenschaften in europäischer Perspektive.

Anne Lehnert, Studium der Germanistik und Katholischen Theologie. Buchhändlerin und Publizistin in Saarbrücken.

Werner Ried, geb. 1965, Diplomgeograph Dr. phil., Dissertation zum grenzüberschreitenden Schienenverkehr SaarLorLux. Er arbeitet für die DB Fernverkehr AG in Frankfurt und das saarländische Bahnunternehmen BahnLog GmbH. Ehrenamtlich ist er im Saarland Vertreter der Allianz Pro Schiene und Vorstandsvize des Verkehrsclubs Deutschland (VCD).

Ekkehart Schmidt, geb. 1964, Volkswirt und Journalist, aufgewachsen in Teheran und Köln, seit 1994 im Saarland, bis 2008 wissenschaftlicher Angestellter für Migrationsfragen beim isoplan-Institut, seitdem beim Verein etika in Luxemburg in der nachhaltigen Finanz tätig.

Ralph Schock, geb. 1952, von 1987 bis 2017 Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk. Journalistische, wissenschaftliche und literarische Veröffentlichungen.

Volker Schütz, Saarbrücker Medienkünstler, arbeitet gerne mit alten technischen Geräten, liebt Pilze und veganes Essen. Veranstaltet in pandemiefreien Jahren zusammen mit Rachel Mrosek die »Nacht der Schönen Künste«.

Gertrud Selzer ist selbstständige Buchhändlerin und Gründungs- und Vorstandsmitglied der Aktion 3. Welt Saar e.V. (www.a3wsaar.de). Sie hat an der Flugschrift »Fairer Handel – Ist eine bessere Welt käuflich« mitgewirkt, die in einer Auflage von 120.000 Exemplaren erschien und u. a. der taz beilag.

Oliver Siebisch, Jahrgang 1983, studierte Geschichte, Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Saarbrücken und Tübingen. Er wurde 2018 mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Arbeit über einen Frühneuzeit-Germanisten promoviert.

Erich Später, geb. 1959, ist Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung Saar. Er publiziert in der Monatszeitschrift konkret. Letzte Buchveröffentlichungen: Villa Waigner. Hanns Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag, Konkret Literatur Verlag Hamburg; Der dritte Weltkrieg – die Ostfront 1941–45, Conte Verlag St. Ingbert.

Jan Thul, geb. 1992 in Neunkirchen (Saar). Lebt und arbeitet in Hildesheim, wo er »Literarisches Schreiben und Lektorieren« studierte. Veröffentlichungen digital auf litradio.net und litfutur.de sowie analog in den Anthologien Landpartie 2019, Freie Fälle und anderen.

Wilfried Voigt, geb. 1951, zehn Jahre Redakteur bei der Frankfurter Rundschau, 18 Jahre Spiegel-Korrespondent (Inland), Wächterpreisträger 1986, freier TV-Journalist, mehrere Buchveröffentlichungen (u. a. Die Jamaika Clique – Machtspiele an der Saar).

Laura Weidig, geb. 1984 in Saarbrücken, Studium der Germanistik (B.A.), der historischen Anthropologie sowie der Kultur- und Mediengeschichte.

Reinhard Wilhelm, geb. 1946 im Sauerland. Er studierte Mathematik, Physik und Informatik in Münster, München und Stanford, promovierte 1977 an der TU München und war von 1978 bis 2014 Professor für Informatik an der Universität des Saarlandes. Von 1990 bis 2014 war er Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Zentrums für Informatik in Schloss Dagstuhl. Von 1989 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion der Saarbrücker Hefte.