Lafontaine gegen Lutze


Wie der Machtkampf zwischen Oskar Lafontaine und Thomas Lutze die Partei Die Linke im Saarland schwer schädigt

Gastbeitrag von Hellmut Lotz

Der Autor ist 56 Jahre alt, Politikwissenschaftler und Amerikanist. Er arbeitet als Wahlkampf- und Unternehmensberater und hat an der Universität des Saarlandes, der Brigham Young University und der University of Maryland studiert und in den USA als Honorarprofessor Politikwissenschaft unterrichtet. Unter anderem hat er in einem Landkreis 2008 Barack Obamas Wahlkampf geleitet. Vor kurzem untersuchte er die linken Mobilisierungspotenziale im Saarland.

In der Linken herrscht seit 2013 zwischen Oskar Lafontaine und Thomas Lutze Streit darüber, wer den ersten Platz auf der saarländischen Landesliste für die Bundestagswahl einnehmen soll.[1] Lutze will sein Bundestagsmandat verteidigen. Lafontaine will Lutze loswerden. Nach 2013 und 2017 hat sich der damals noch relativ unbekannte Lutze, nun im Jahr 2021 das dritte Mal gegen den Superstar Lafontaine durchgesetzt. Dieses Jahr ist der Streit dermaßen eskaliert, dass Lafontaines Anhänger nicht nur Beschwerden bei Parteischiedsgerichten und dem Landeswahlleiter eingebracht haben, sondern in den Medien Lutze mit Unionsabgeordneten gleichsetzen, die sich an der Coronapandemie bereichert haben. Die ehemalige Landesparteivorsitzende der Linken Astrid Schramm hat Thomas Lutze sogar bei der Staatsanwaltschaft angezeigt, die jetzt gegen Lutze ermittelt. Daraufhin hat die Landesschiedskommission die jetzige stellvertretende Fraktionsvorsitzende Schramm aus der Partei ausgeschlossen, woraufhin sich diese an die Bundesschiedskommission gewandt hat. Die Entscheidung steht noch aus. Einige Anhänger Lutzes fordern auch den Parteiausschluss Lafontaines, der wiederum dazu aufgerufen hat, als letztes Mittel die Linke im Saarland nicht zu wählen, um Lutze im Bundestag zu verhindern.[2] Wie ist es möglich, dass Thomas Lutze sich wiederholt gegen Oskar Lafontaine durchsetzt? Worum geht es in dem Streit zwischen Lutze und Lafontaine? Wie hat sich dieser Streit entwickelt?

Landesvorsitzender Thomas Lutze (l.) und Fraktionsvorsitzender Oskar Lafontaine. Foto: BeckerBredel

Oskar Lafontaine und seine Unterstützer werfen Lutze Stimmenkauf,[3] die Manipulation der Mitgliederkartei der Partei, Missbrauch von Steuergeldern für Wahlkampfaktivitäten und Urkundenfälschung vor. Teilweise datieren solche Anschuldigungen bis 2013 zurück. Teilweise sind die Anschuldigungen widersprüchlich. Allerdings können sich Lutzes Gegner neuerdings auf Mekan Kolašinac als Zeugen berufen. Kolašinac war Vorsitzender des Linken-Stadtverbandes in Saarlouis und Mitarbeiter in Lutzes Bundestagsbüro. Im Oktober 2017 sorgten seine antisemitischen Äußerungen im Netz für große öffentliche Empörung. Die umstrittenen Aussagen erklärte Kolašinac mit Tippfehlern und dem Unwissen eines Einwanderers. Lutze stand ihm zunächst bei. Erst nach einem erneuten Skandal um seine rechtsradikalen Äußerungen im April 2020 wurde ihm dann auch gekündigt und ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet. Jetzt behauptet Kolašinac gegenüber den Medien und einem Anwalt, Mitgliederkauf an der Seite von Lutze persönlich erlebt zu haben.[4] Thomas Lutze bestreitet alle Vorwürfe und erinnert daran, dass die bisher einzige falsche Stimmenzählung gerade seinen Gegnern nachgewiesen wurde, als sie 2013 versucht haben, ihm die Nominierung auf dem ersten Listenplatz zur Bundestagswahl zu verweigern. Er ist fest entschlossen, sein Bundestagsmandat abermals zu verteidigen.

Fakten, Gerüchte und der Postenkampf

Bei innerparteilichen Abstimmungen sind vertrauliche und verdeckte Absprachen vielleicht das wichtigste Mittel, um Mehrheiten für Kandidaten zu schaffen. Damit gewinnen Kandidaten Unterstützer und deren Stimmen. Oft sind diese verdeckten Verabredungen so erfolgreich, dass sie die Abstimmungen de facto entscheiden. An solchen Vereinbarungen nehmen allerdings so viele Menschen teil, dass der Geheimhaltung Grenzen gesetzt sind und sie selten vollkommen gelingt. Der Saarländische Rundfunk und die Saarbrücker Zeitung berichten einiges. Andere Informationen machen per Mund-zu-Mund-Propaganda die Runde. Es handelt sich also um Gerüchte und Hörensagen, die man auf Plausibilität prüfen, aber selten beweisen kann. Da solche Gerüchte in der Natur innerparteilicher Auseinandersetzungen liegen, ist es notwendig, sie skeptisch zu berücksichtigen und einzuordnen. Es wäre nicht möglich, die Handlungen der Akteure zu verstehen, ohne sich zu bemühen, ihre Aktivitäten aufzuhellen, die sie versuchen geheim zu halten.

Die Zusammenarbeit der Parteiführer und Mitglieder beruht auf unterschiedlichen Motiven von ideologischer Überzeugung bis zur Patronage oder den Feindbildern, die durch die Diffamierung der Gegenkandidaten geschaffen werden, und dem Konformismus, den die Zugehörigkeit zu innerparteilichen Gruppen und Seilschaften erfordert. Ein Mittel, um Kampfabstimmungen zu gewinnen, ist Desinformation. In der Auseinandersetzung um hochbezahlte Ämter werden Feindbilder über Parteifreunde gezeichnet, die häufig bösartig und paranoid sind. Folglich sind viele Informationen, welche die Runde machen, Halbwahrheiten und Erfindungen. Manches Gerücht ist wahr. Mehr sind teilweise wahr, teils verzerrt. Wieder andere sind gänzlich gelogen. Selbst unter ehrlichen Menschen verändern sich die Informationen jedes Mal, wenn die Geschichte wie bei der Stillen Post weitererzählt wird. Aber auch Gerüchte sind für die Beschreibung und Analyse der Ereignisse nützlich. Zumindest zeigt der Umlauf von Gerüchten, was Kandidaten und ihre Unterstützer unternehmen, um ihre Lage zu verbessern und ihren Mitbewerbern zu schaden. Darüber hinaus kann man an Gerüchten und Propaganda ablesen, was Parteimitglieder übereinander glauben und voneinander halten. Folglich enthält diese Besprechung sowohl Medienberichte und Insidermeldungen als auch relevante Gerüchte, die als solche gekennzeichnet und infrage gestellt werden.

Streit um politische Posten und Mandate

Der Streit zwischen Lutze und Lafontaine ist kein Einzelfall. Er ist symptomatisch für die Politik im Saarland und anderenorts. Fliegende Ortsvereine, bezahlte Parteimitglieder und dergleichen, bei denen Amtsinhaber nicht vom Volk gewählt werden, sondern Amtsinhaber sich das Volk aussuchen, das die Politiker dann „wählt“, gibt es sowohl bei den Saar-Linken wie den Saar-Grünen in der einen oder anderen Form seit Jahrzehnten. Allem Anschein nach herrschen vergleichbare Missstände bei der saarländischen AfD.[4] Ähnliche Skandale gab es Anfang der neunziger Jahre bei der CDU Hamburg.[5] Ebenfalls in Hamburg saß bis vor kurzem der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, der berüchtigt für seine Manipulation der Parteimitglieder ist, um ihn immer wieder als Direktkandidat aufzustellen.[6] Im Saarland laufen dies bezüglich viele Fäden bei dem Grünen-Politiker Hubert Ulrich zusammen, dessen undemokratische Methoden über seine Beziehungsgeflechte in anderen saarländischen Parteien Einzug gehalten haben.[7] Ulrich hat lange mit Andreas Pollak zusammengearbeitet, um Mitgliederabstimmungen zu manipulieren. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Pollack ein vorbestrafter Betrüger war, der sich später des Diebstahls und Rezeptbetrugs schuldig machte.[8]

Zusammen mit Ulrich und Pollak war Josef Dörr der Dritte im Bunde, der mittlerweile die Methode Hubert Ulrich als Landes- und Fraktionsvorsitzender der AfD praktiziert.[9] Josef Dörr, Hubert Ulrich und Andreas Pollack fanden 1993 zueinander, um die Kandidatur eines Rivalen für den Landesparteivorsitz abzuwehren. Ulrich wurde damals wieder Landesvorsitzender. Pollack kam in den Landesvorstand und wurde bei der nächsten Gelegenheit 1994 zusammen mit Ulrich Landtagsabgeordneter. Dörr wurde der Landesschatzmeister. Nach zahlreichen Skandalen aufgrund seiner kriminellen Machenschaften musste Pollak die Grünen verlassen, „vererbte“ allerdings mit seinen manipulativen Methoden seinen Listenplatz Nummer eins im Wahlkreis Neunkirchen an seine Frau Barbara Spaniol, die 2007 zur frisch gegründeten Linken wechselte.[10] [11] Als Spaniol 2007 die grüne Landtagsfraktion verließ, nahm Oskar Lafontaine sie mit offenen Armen in seine neue Partei Die Linke auf. Während der Landtagswahl 2009 rief er dazu auf, Spaniol aufgrund ihrer guten Parlamentsarbeit wieder auf der linken Liste im Wahlkreis Neunkirchen zu nominieren. Mit Spaniols Übertritt erhielt die Linke ihre erste Abgeordnete im saarländischen Landtag. Es geht bei dem Streit zwischen Lutze und Lafontaine also nicht nur um das Verhalten von zwei Personen, sondern um die Strukturen in weiten Teilen der saarländischen Politik und der saarländischen Linken.

Entwicklung des Streits

Seit 2013 bekämpft Oskar Lafontaine ironischerweise mit Thomas Lutze einen Kandidaten, den er selbst geschaffen hat. Oskar Lafontaine war ein weltbekannter Politiker, Architekt von Gerhard Schröders Wahlkampf 1998, Superminister im Bundeskabinett und wurde fast Bundeskanzler. Im Streit über Schröders Sozialpolitik verließ Lafontaine 2005 die SPD und trat der neuen Partei Arbeit und Soziale Gerechtigkeit – die Wahlalternative (WASG) bei, die sich auf sein Betreiben mit der PDS vereinigte und zur Partei Die Linke wurde. Im Rahmen der Fusionierung der beiden Parteien stellte Oskar Lafontaine den Vorsitzenden des PDS-Landesverbandes Saarland, Thomas Lutze, ein.

Oskar Lafontaine und die stellvertretende Fraktionsvorsitzende und ehemalige Landesvorsitzende Astrid Schramm.
Foto: BeckerBredel

Als die neue Partei Die Linke das erste Mal bei der Bundestagswahl 2005 antrat, kandidierte Lafontaine vorsichtshalber in Nordrhein-Westfalen. Im kleinen Saarland war sich Lafontaine nicht sicher, ob er als Spitzenkandidat auf der Landesliste auch gewählt worden wäre. Im Saarland nominierte die Linke den WASG-Vertreter Volker Schneider auf Listenplatz eins und den PDS-Vertreter Hans-Kurt Hill auf Listenplatz zwei. Überraschenderweise zogen beide Kandidaten in den Bundestag ein, versäumten es aber, sich im Verlauf der Legislaturperiode eine Hausmacht im Saarland aufzubauen, und wurden 2009 nicht mehr nominiert. Oskar Lafontaine erhielt in diesem Jahr dann selbstverständlich den ersten Listenplatz. Sein Angestellter und der ehemalige Vorsitzende der PDS im Saarland, Thomas Lutze, gewann den zweiten Listenplatz. Aufgrund einer Sonderregelung im Sinne Lafontaines konnten zwei Männer trotz des Frauenstatuts auf den beiden Spitzenplätzen nominiert werden. Als Lafontaine auf sein Bundestagsmandat verzichtete, um in den saarländischen Landtag einzuziehen, rückte die Listendritte Yvonne Ploetz in den Bundestag nach.

Kohde-Kilsch als Gegenkandidatin

Bei der nächsten Bundestagswahl 2013 versuchte Oskar Lafontaine, die ehemalige Weltklasse Tennisspielerin Claudia Kohde-Kilsch auf dem Listenplatz eins im Saarland zu nominieren. Kilsch wäre prominent, argumentierte Lafontaine, was der Partei helfen würde. Ferner meinte Lafontaine, dass die Nominierung der jungen Frau den Generationenwechsel in der Linken vollziehen würde. Claudia Kohde-Kilsch war damals 49 Jahre alt, ihre Gegenkandidaten Thomas Lutze 43 und Yvonne Ploetz 29. Es wurde leider schnell offensichtlich, dass Kohde-Kilschs Interesse an Politik bis dahin nicht ausgeprägt war. Sie kannte sich programmatisch kaum aus und las ihre Reden stockend vom Manuskript ab. Die offensichtlichen Schwächen von Lafontaines Kandidatin erboste viele Parteimitglieder, die ihm dementsprechend die Gefolgschaft verweigerten und Kohde-Kilschs Nominierung mehrheitlich auf der Landesmitgliederversammlung ablehnten. Als sich Oskar Lafontaine mit einer Rede für Kohde-Kilsch einsetzte, kritisierte er seinen ehemaligen Mitarbeiter Thomas Lutze und sprach ihm das ausreichende Engagement in der Partei und die Fähigkeiten für einen Abgeordneten ab. Die Diffamierung Lutzes durch Lafontaine verärgerte viele der anwesenden Parteimitglieder. Ein Zuhörer rief dazwischen: „Halts Maul, du Arschloch!“ In der Abstimmung für den Listenplatz eins hatte Kohde-Kilsch dann keine Chance. Sie wurde nach Lutze und Ploetz Dritte und schaffte es nicht in die Stichwahl. Die Niederlage Lafontaines wurde in den Medien sensationell und hämisch kommentiert. Unter anderem war die Rede vom „Sturz eines Denkmals“.[12]

Yvonne Ploetz verliert im zweiten Durchgang

Nach Kohde-Kilschs Niederlage 2013 traten Yvonne Ploetz und Thomas Lutze gegeneinander in der Stichwahl für den ersten Listenplatz zur Bundestagswahl an. Zunächst schien Ploetz eine minimale Stimmenmehrheit errungen zu haben. Oskar Lafontaine rief Thomas Lutze dazu auf, der Partei zu dienen und für Yvonne Ploetz in der Bundestagswahl zu kämpfen. Aufgrund eines Hinweises, wahrscheinlich eines Stimmenzählers bei der Landesmitgliederversammlung, erklärte Thomas Lutze, dass etwas mit der Wahl nicht stimmen könne, und bewirkte gegen den Widerstand Lafontaines die notarielle Nachzählung der Wahlzettel. Die Überprüfung ergab, dass Lutze die Stimmenmehrheit errungen hatte. Der Landesvorstand der Linken berief eine weitere Mitgliederversammlung ein. Sowohl Lutze als auch Ploetz traten wieder an, was zu massiven Anfeindungen gegen Yvonne Ploetz führte, weil einige Mitglieder der Partei meinten, die Kandidatin würde gegen demokratische Normen verstoßen, weil sie weiterhin kandidiere, obwohl ihre ursprüngliche Nominierung illegitim gewesen wäre. Einige ihrer Kritiker gingen so weit, ihr statt eines Irrtums Betrug zu unterstellen, ohne eine solche Anschuldigung zu beweisen. Ploetz genoss allerdings die Unterstützung Lafontaines und seiner Anhängerinnen im Landesvorstand. Trotzdem gewann Lutze auch die zweite Abstimmung, woraufhin Lafontaine erklärte, er würde wegen Lutze den Bundestagswahlkampf boykottieren. Von der solidarischen Wahlkampfunterstützung für den innerparteilichen Gegner, die Oskar Lafontaine gepredigt hatte, solange Ploetz vorne lag, war keine Rede mehr, nachdem die Kandidatinnen, die er unterstützt hatte, verloren hatten.

Die Abgeordneten Dennis Lander (l.) und Oskar Lafontaine bei der Plenarsitzung des Saarländischen Landtages. Foto: BeckerBredel

Dank seiner Wiederwahl kontrollierte Lutze weiterhin mehrere Arbeitsplätze, die er als Patronage einsetzen konnte. Ploetz’ Patronage war mit ihrem Sitz im Bundestag verloren gegangen. Als Lutze im September 2019 Landesparteivorsitzender wurde, erlangte er Kontrolle über weitere Arbeitsstellen und baute seine Hausmacht aus. Auf die Wahl von Lutze zum Parteivorsitzenden im Jahr 2017 reagierte Lafontaine mit der Reduzierung seines Mitgliedsbeitrags auf monatlich fünf Euro. Damit bezahlt der Spitzenverdiener weniger als manche Rentnerin. Auf die Anfrage beim Landesvorstand, ob ein Mahnverfahren gegen Lafontaine anhängig wäre, verwies der Landesparteivorsitzende Thomas Lutze auf den Datenschutz.[13] Lafontaine beantwortete die Anfrage nicht. Die Vorstellung, dass Lutze seine finanzielle Existenz aufgeben würde, weil ein Promi ein paar tausend Euro weniger abführt, scheint absurd. Aber offenbar geht es schon lange nicht mehr um vernünftige, sondern um persönliche Motive.

Dabei schadet Lafontaines Besessenheit nicht nur ihm selbst, sondern der gesamten Partei. Als Dennis Lander, Hoffnungsträger der Partei, 2021 auf der Landesmitgliederversammlung im Ellenfeldstadion mit Lafontaines Billigung gegen Thomas Lutze um den ersten Platz auf der Liste zur Bundestagswahl antrat, verlor der junge saarländische Landtagsabgeordnete deutlich. Wieder war Oskar Lafontaine nicht in der Lage, Lutze in einer Abstimmung der Landesmitgliederversammlung zu besiegen.

Geht es Lafontaine ums Prinzip?

Es wäre möglich, dass Oskar Lafontaines Verhalten eine Prinzipienfrage ist. Er sagt, dass man die Linke im Saarland nicht wählen dürfe, weil Lutze Parteimitglieder für ihre Stimme bezahlen würde. Sollten diese Vorwürfe den Tatsachen entsprechen, dann hätte Lafontaine recht. Aber wenn es sich für ihn tatsächlich um eine Prinzipienfrage handeln würde, weil die Wählerstimmen der Parteimitglieder nicht gekauft werden dürfen, dann stellt sich die Frage, warum Oskar Lafontaine 2007 die grüne Landtagsabgeordnete Barbara Spaniol in die Linke aufgenommen hat. Von Barbara Spaniol und ihrem Ehemann Andreas Pollak behaupten laut Wilfried Voigts Buch Die Jamaika-Clique Hubert Ulrich und mehrere linke Parteimitglieder, dass sie bei der Kandidatenaufstellung 2009 das Wahlgeheimnis verletzt, Nichtmitglieder der Partei abstimmen lassen und Stimmen von Parteimitgliedern zugunsten Spaniols „gekauft“ hätten.[14] Anstatt diesen Anschuldigungen auf den Grund zu gehen, nahm Lafontaine die grüne Landtagsabgeordnete Barbara Spaniol 2007 mit Begeisterung in die Linke auf und sprach sich 2009 mit Nachdruck für ihre Nominierung aus. Die Skandale und die Manipulation der Politikerin waren ihm nicht wichtig. Stattdessen nominierte Oskar Lafontaine Barbara Spaniol 2013 als Vizepräsidentin des saarländischen Landtags, was sowohl ihr Einkommen als auch ihr Prestige steigerte.

Wäre es Oskar Lafontaine um Prinzipien gegangen, hätte er bereits bei der falschen Auszählung der Stimmen der Landesmitgliederversammlung zugunsten von Yvonne Ploetz’ protestiert und Lutze im Bundestagswahlkampf unterstützt.    

Und: Hätte Lafontaine das Prinzip der Frauenquote respektiert, wäre Thomas Lutze nie Bundestagsabgeordneter geworden. Denn im Saarland war für Lafontaine eine Ausnahme geschaffen worden, welche die Nominierung von Männern auf Platz eins und zwei zuließ.  Hätte das Frauenstatut der Bundespartei gegolten, wäre Yvonne Ploetz 2009 auf Platz zwei nominiert worden. Mit seinen taktischen Spielchen zulasten der Frauenquote verhalf Lafontaine Thomas Lutze unbeabsichtigt in den Bundestag.[15]

Oskar Lafontaines Kandidatinnen gegen Thomas Lutze, Claudia Kohde-Kilsch und Yvonne Ploetz, sind mittlerweile beide in der SPD. Claudia Kohde-Kilsch wechselte nach ihrer Spitzenkandidatur für die Linke in Saarbrücken 2019 zur SPD-Fraktion im Stadtrat.[16] Yvonne Ploetz arbeitet seit kurzem für die saarländische SPD-Landtagsfraktion.[17] Lafontaine vergraulte nicht nur sie, sondern viele Linke, die ihn einst bewundert haben, aber sich nicht dominieren lassen wollen und Interesse an effektiver und transparenter politischer Arbeit haben. Für viele von ihnen ist eine Stimme für Thomas Lutze eine Stimme gegen Oskar Lafontaine.


[1] Georgi, Stefan. „Sturz eines Denkmals“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juli 2013.

[2] Gerber, Thomas. „Ermittlungen gegen Linken-Abgeordneten Thomas Lutze“. Saarländischer Rundfunk, 18.März, 2021. https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/politik_wirtschaft/verdacht_gegen_urkundenfaelschung_gegen_lutze_100.html

[3] Schmidt-Lunau, Christoph. „Korruptionsgroteske geht weiter“. taz, 28. Januar 2021. https://taz.de/Skandal-um-Linkspartei-im-Saarland/!5747940/

[4] Gaithmann, Moritz. „Die letzte Schlacht“. Cicero, 30. Juli 2021.

[5] „Lichterketten bis ins Wahllokal“. Spiegel, Nummer 19, 9. Mai 1993.

[6] „Herrscher über Hamburgs Mitte“. taz, 3. Februar 2019.

[7] „Schlammschlacht im Saarland: Misstrauen gegen Ex-Grüne Spaniol“. taz, 3. September 2009.

[8] Voigt, Wilfried. Die Jamaika Clique: Machtspiele an der Saar, Seiten 23, . Saarbrücken: Conte Politik.

[9] Gaithmann, Moritz.

[10] „MdL Barbara Spaniol wechselt zur Linken“. ntv, 6. August 2007. https://www.n-tv.de/politik/MdL-Spaniol-wechselt-zur-Linken-article225728.html.

[11] Interview mit lokalen Aktivisten aus dem Saar-Pfalzkreis, Saarbrücken, 10. September 2021.

[12] Georgie, Oliver.

[13] Lutze, Thomas. E-Mail, 2. August 2021.

[14] Voigt, Wilfried. Seiten 22-23.

[15] Schneider, Volker. Interview vom 23. September 2021. Schneider berichtet, dass im Wahljahr 2013 der zweite Listenplatz ihm als Rentenexperten vorbehalten war. Lafontaine war auf dem ersten Listenplatz nominiert. Doch den Verzicht der Frauen auf eine Kandidatur nutzten dann Thomas Lutze und der Landesparteivorsitzende Rolf Linsler, um den zweiten Listenplatz für Lutze zu gewinnen.

[16] „Claudia Kohde-Kilsch verlässt die Linkspartei“. Saarbrücker Zeitung, 17. August 2018.

[17] „Personalie: Ex-Linke Yvonne Ploetz arbeitet jetzt für die SPD im Saar-Landtag“. Saarbrücker Zeitung, 18. Mai 2021.

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